© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/03 27. Juni 2003

 
Neulich im Internet
Jammern.de
Erol Stern

Schon der Altbundeskanzler bemerkte treffend, daß wir ein Volk von Jammerlappen sind, jedoch hat dieser Trend in den letzten Jahren derart zugenommen, daß ein paar findige Köpfe eine Art "virtuelle Klagemauer" für die "Weltmeister unter den Jammerern" erschaffen haben. Das ist doch mal was: Ein Internetforum, daß (neudeutsch) 24/7 zur Verfügung steht, um sich mal nach Herzenslust seinen Frust von der Seele zu texten. Unter Jammern.de fühlen sich selbst die hartgesottensten Jammerer der Nation verstanden. Und da keiner perfekt ist, werden auch noch Kurse und therapeutisches Hintergrundwissen zu der Thematik angeboten. Besonders interessiert mich das Seminar "Jammern im Alltag für Millionäre", jedoch scheide ich durch den Reibungskoeffizienten zwischen Daumen und Zeigefinger leider gänzlich aus der Zielgruppe aus. (Wißt Ihr, wie jämmerlich man sich fühlt, wenn man arm ist?) Beachtet bitte auch, daß es verschiedene Formen des Jammerns gibt. So unterscheidet man wissenschaftlich zwischen Aufmerksamkeits-, Zuwendungs- und Präsentationsjammern sowie einigen anderen Formen. Doch auch Benimm-Regeln haben mehr mit subtilem, kunstvollem Jammern zu tun, als man gemeinhin denkt. Wer die Frage nach dem Befinden angeberisch positiv oder gar überschwenglich beantwortet, begeht einen schweren Fauxpas, da er bei dem oftmals leidenden Frager dadurch jegliches Selbstwertgefühl zerstört. Und das Erbärmlichste ist: In der derzeitigen Situation dieses Landes gibt es allerhand zu Jammern, so daß es nie an Gesprächsthemen in deprimierter Runde mangelt und man kein Ende findet, jammert Euer EROL STERN


 
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