© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/03 27. Juni 2003

 
Wirtschaft ist ein religiöses Thema
von Klaus Motschmann

Die Auseinandersetzungen um Auswege aus der nunmehr seit Jahren andauernden Krise vermitteln einen beklemmenden Eindruck, der schlimmer ist als die Krise selber - und damit eine Erklärung für die Dauer und das Ausmaß dieser Krise: sie dokumentieren das offenkundige Unvermögen, spürbare Lösungen zu finden - und sei es auch nur in überzeugenden Ansätzen. Ein Grund dafür liegt in dem engen ideologisch-ökonomischen Rahmen, in dem sich diese Auseinandersetzungen bewegen - bewegen sollen?

Einige immer wiederkehrende Stich- und Schlagworte dieser Auseinandersetzungen genügen zur Veranschaulichung: Lohnnebenkosten - Niedriglohnsektor - Senkung der Schwellenwerte für alle möglichen Beitragszahlungen - Steuererhöhungen und Kürzungen von Sozialleistungen - Steigerung der Binnennachfrage und Verlängerung der Arbeitszeiten und so weiter. Monatelang ist über die Verlängerung der Ladenschlußzeiten, über das Dosenpfand für alkoholfreie und alkoholische Getränke und über die Anhebung der Mehrwertsteuer für Schnittblumen und Katzenfutter gestritten worden.

Immer neue Kommissionen (Hartz I und Hartz II, Rürup u.a.), Runde Tische, Bündnisse für Arbeit, Kaminrunden, Klausurtagungen und Sonderparteitage entwickeln neue Strategien und bemühen sich um Eins-zu-Eins-Umsetzungen, die allerdings nur selten gelingen. Sie bewirken allenfalls vorübergehende Entlastungen in einem bestimmten Sektor, um dann nach einiger Zeit in einem anderen Bereich mit um so größerer Wucht die Probleme zu verschärfen. So entstehen immer neue sogenannte kognitive Dissonanzen, erlebbare Widersprüche zwischen Erwartung und Erfüllung, Enttäuschungen, die auf Täuschungen beruhen.

Die angedeuteten Maßnahmen haben sicher zu einer Verlangsamung der krisenhaften Entwicklung in Wirtschaft und Gesellschaft beigetragen, aber nicht zu einem Stopp oder gar zur Umkehr in eine Richtung, die eine realistische Aussicht auf allmähliche Bewältigung der Probleme verheißt. Es genügt für diesen Zusammenhang auf die seit Monaten konstante Zahl von 4,5 Millionen Arbeitslosen, vor allem aber auf die konstante Zunahme der Verschuldung der öffentlichen Haushalte - pro Sekunde (!) um 1.669 Euro - hinzuweisen, die am 1. Mai 0.00 Uhr einen Stand von 1.290.449.227.390 Euro erreicht hat - und damit eine Höhe, die sich dem Vorstellungsvermögen des weitaus größten Teiles unseres Volkes entzieht.

Damit hat sich eine Eigendynamik entwickelt, die ihren eigenen Gesetzen wie eine Sturmflut folgt. Die massenpsychologisch höchst bedenklichen Folgen sind die um sich greifende Resignation, Gleichgültigkeit und Apathie, aus denen der inzwischen allseits beklagte Verlust des Vertrauens in die politischen Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen resultiert. Die Wirtschaftskrise hat sich zu einer schweren Vertrauenskrise ausgewachsen.

Man fühlt sich an die Geschichte von den Piraten erinnert, die nach der erfolgreichen Kaperung eines Schiffes und der Zerstörung aller Navigationsinstrumente den Kapitän zwingen, sich allein an der am Mastbaum gehißten Piratenflagge zu orientieren. Tatsächlich ändert das Schiff auch den Kurs, jedoch nicht aufgrund der neuen Steuerung, sondern weil es faktisch ohne Steuerung - und vor allem ohne die notwendige Gegensteuerung - in einer starken Strömung und im Gezeitenwechsel treibt. Zuverlässige Orientierungen sind nun einmal weder zu Lande noch zu Wasser noch in der Luft ohne ein verbindliches, außerhalb menschlicher Eigenmächtigkeit liegendes Koordinatensystem möglich.

Das bedeutet für die Entwicklung der Wirtschaft und die Suche nach Auswegen aus der Krise, daß sie nicht allein in der Orientierung an noch so wichtigen wirtschaftlichen Fakten gefunden werden können. Es kommt in erster Linie auf den Willen und auf die Fähigkeit zu Entscheidungen an. Buridans Esel verhungerte bekanntlich zwischen zwei gleichgroßen Heuhaufen, weil er sich nicht entscheiden konnte, von welchem er zuerst fressen sollte.

Wirtschaftliche Entscheidungen hängen also nicht allein von wirtschaftlichen Faktoren ab, sondern von zahlreichen anderen, nicht-ökonomischen Faktoren. Spätestens seit Max Weber (1864-1920) wissen wir, daß Struktur und Funktion eines Wirtschaftssystems bzw. das wirtschaftliche Handeln des Einzelnen in entscheidendem Maße von religiösen Einstellungen abhängig ist. Aus der Fülle der Untersuchungen zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen", die zum Verständnis der Probleme zunehmender Globalisierung heute belangvoller sind denn je, sei nur an ein Standardwerk der deutschen Soziologie und Wirtschaftstheorie erinnert: "Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus". Diese Ethik hat einen maßgebenden Einfluß auf die Wirtschaftstheorie und damit auch auf die Wirtschaftspolitik gehabt, insbesondere auf Konjunkturen und Krisen.

Zunächst in dem eher vordergründigen Sinne, daß sie den Einzelnen durch die religiös motivierte "innerweltliche Askese" zu einem Daseinsverständnis brachten, aus dem unmittelbar entscheidende Motive für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung abgeleitet werden konnten, zum Beispiel­ Leistungs- und Dienstbereitschaft, Sparsamkeit, Verantwortungsbewußtsein, Fleiß, Zuverlässigkeit, samt und sonders Tugenden, die sich vor allem in Krisenzeiten bewährten und realistische Wege aus der Krise zeigten. Alle schweren Krisen unseres Volkes, nach dem Dreißigjährigen Krieg, nach dem Zusammenbruch Preußens 1807, nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg sind durch radikale geistige Reformbewegungen überwunden worden, weil "der Staat durch geistige Kräfte ersetzte, was er an physischen verloren hat" (König Friedrich Wilhelm III. im Jahre1810).

Wann und von wem hat man in den Auseinandersetzungen um einen Weg aus der gegenwärtigen Krise einen derartigen Vorschlag vernommen? Sodann aber, und das ist der wesentliche Aspekt der Wechselbeziehungen von "protestantischer Ethik" und "kapitalistischem Geist", wurden die dem Kapitalismus innewohnenden Tendenzen zur Zersetzung der traditionellen, religiös bestimmten "Seins-Ordnungen" zugunsten aus menschlicher Selbstbestimmung gestalteten "Haben-Ordnungen" zwar nicht verhindert, wohl aber abgebremst, so daß nicht nur eine fruchtbare Spannung zwischen ökonomisch- rationaler und religiös-kulturell motivierter Verantwortung entstehen konnte, sondern vor allem ein Menschenbild, das sich nicht nur an wirtschaftlichen Zweckmäßigkeiten orientiert.

Das Verständnis für die Entstehung, Funktion und Gefährdung und damit Antworten auf die Frage nach Auswegen aus einer Krise erschließt sich demnach nicht allein aus einer Beachtung der sogenannten endogenen, rein wirtschaftlich bedingten Faktoren, sondern immer auch und vor allem aus der Beachtung exogener Faktoren, das heißt nicht-ökonomischen Faktoren, also den gesellschaftlichen Wandlungen, der religiösen Verfassung, der vorherrschenden allgemeinen Stimmung: technischer Fortschritt, Naturkatatstrophen, Kriege usw. Selbstverständlich haben derartige "Imponderabilien" im Laufe der Wirtschaftsgeschichte immer eine beachtenswerte Rolle gespielt - allerdings meist nur zur Erklärung wirtschaftlicher Krisen, also im nachhinein, und nicht im Sinne einer coniunctio rerum omnium, einer ganzheitlichen Vorstellung von der "Verknüpfung aller Ursachen".

Wer sich dieser Zusammenhänge bewußt bleibt und sie zur Erklärung von Konjunkturen und Krisen heranzieht, wird sich skeptisch gegenüber allen ideologischen Fixierungen und Prognosen verhalten und sich eine realistische Nüchternheit bewahren, die nach wie vor eine unverzichtbare Voraussetzung verantwortungsbewußter Politik ist. "Man kann nicht selber etwas schaffen; man kann nur abwarten, bis man den Schritt Gottes durch die Ereignisse hallen hört; dann hervorspringen und den Zipfel seines Mantels zu fassen - das ist alles" - so sagte noch Bismarck in seiner Antwort auf die Frage nach der "vorausberechnenden Geschicklichkeit" in der Politik. Dahinter steht nicht nur die eigene, sondern auch die allgemeine geschichtliche Erfahrung, daß es kein zuverlässiges Vorauswissen (griechisch: Prognose) gibt.

Damit ist nichts gegen politische oder wirtschaftliche Planungen gesagt. Verantwortungsbewußtes politisches und wirtschaftliches Handeln muß sich selbstverständlich an Visionen, an Leitbildern und Perspektiven orientieren. "Wer kein Ziel hat, kann den Weg nicht finden", sagt eine alte Volksweisheit. Sie müssen sich aber auf realistische Möglichkeiten der Verwirklichung beziehen und zur Vermeidung von Enttäuschungen auf mögliche Risiken hinweisen. Dazu gehört der kleine, aber ausreichende Zusatz "sub conditione Jacobea", der nach dem Neuen Testament vor "vermessenem menschlichen Plänemachen" warnen soll.

In der noch immer gängigen Redensart "So Gott will", in der religiösen Form des Eides "So wahr mir Gott helfe" oder in der Präambel des Grundgesetzes mit dem Hinweis auf die Verantwortung, vor Gott wird an die Grenzen der Eigenmacht des Menschen erinnert und vor ideologischer Hybris gewarnt. Allerdings nimmt die Bereitschaft deutlich ab, sich daran erinnern zu lassen oder gar erkennbare Konsequenzen für politische Entscheidungen daraus zu ziehen.

Dabei ist etwa an die Tatsache zu denken, daß in den Verträgen zur Neuordnung Europas von Maastricht (1992 und 1997) die beiden christlichen Kirchen keine Erwähnung finden. In der Schlußakte zu Maastricht II heißt es nur, daß die Union den Status achtet und unangetastet läßt, "den die Kirchen, religiösen Vereinigungen und Gemeinschaften in den Mitgliedsländern nach deren Rechtsvorschriften genießen".

Auch die weit vorangeschrittenen Arbeiten an einer europäischen Verfassung deuten darauf hin, daß nach dem Willen des Verfassungskonvents diese Linie beibehalten wird. Im Artikel 2 soll es nur heißen: "Die Union gründet sich auf den Werten des Respektes vor der Würde des Menschen, der Freiheit, der Demokratie und des Rechtsstaates." Der Versuch der Europäischen Volkspartei, im September 2002 in einer Ergänzung zu dieser Fassung einen Gottesbezug dieser Werte herzustellen, ist an dem Widerstand der sozialistischen, grünen und liberalen Abgeordneten gescheitert.

Damit werden Maßstäbe der politischen Urteils- und Willensbildung gesetzt, die das Meinungsklima in unserem Volke nachhaltig beeinflussen. Nach 40 Jahren Sozialismus in der DDR und 40 Jahren sozialistisch-liberaler Kulturrevolution in der alten Bundesrepublik kann der Prozeß der Entchristlichung unseres Volkes und damit die ideologische Fixierung auf eine "Schöne Neue Welt" weiter vorangetrieben werden - trotz aller Erfahrungen der Geschichte.

Erinnerungen an den Zusammenbruch des parlamentarischen Systems von Weimar werden wach. Dieser wurde ausgelöst durch den Streit um eine notwendige Erhöhung der Arbeitslosenversicherung um ein halbes Prozent im März 1930. Je nach politisch-ideologischem Standort ist damals wie heute sowohl die Haltung der Liberalen als auch der Gewerkschaften für diesen Bruch der Großen Koalition verantwortlich gemacht worden. Als ob es darauf entscheidend ankäme.

Tatsache ist, daß die Verteidigung der eigenen Position eine gemeinsame Abwehr der durch die Weltwirtschaftskrise hereinbrechenden Nöte unmöglich machte. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen wird verständlich, daß einer der maßgebenden Wegbereiter der sozialen Marktwirtschaft und Väter der D-Mark, Alfred Müller-Armack, seine Gedanken über Wege aus der sehr viel schlimmeren Krise unseres Volkes nach dem Zusammenbruch von 1945 nicht allein in einer Fülle von wirtschaftswissenschaftlichen und wirtschaftspolitischen Untersuchungen darlegte, sondern in einer umfangreichen geisteswissenschaftlich-theologischen Abhandlung unter dem Titel: "Das Jahrhundert ohne Gott" (1948).

Müller-Armack warnt vor einer rein wirtschaftlich-politischen Lösung der immensen Probleme, sofern ihr nicht die notwendige Rückbesinnung auf die tragenden Grundlagen unserer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnungen vorausgehen sollte: "Es wäre ein Angriff auf die tiefsten Grundlagen unserer Lebensüberzeugung, wenn man den Versuch machte, diese Spannung (geistlicher und weltlicher Kulturformen) aufzulösen zugunsten einer irdische Kulturwerte ignorierenden, rein religiösen Haltung - oder, was im 19. Jahrhundert zur Diskussion gestellt wurde, zugunsten einer nur weltlichen Kulturform. Auf die Entwicklung unserer weltlichen Kultur hin gesehen, glauben wir darauf schließen zu können, daß diese nie allein aus sich verstanden werden kann, sondern stets nur im Widerhall zur Transzendenz, gegen die sie sich abgrenzt. Jeder Verstoß gegen diesen Grundsatz ist dazu verurteilt, über kurz oder lang als Irrtum eingesehen und revidiert werden zu müssen."

Es gibt hoffnungsvolle Anzeichen, daß dieser Irrtum inzwischen in zunehmendem Maße unter dem Eindruck der Realitäten eingesehen wird und sich ideologische Erstarrungen zu lösen beginnen. Zumindest wächst die Erkenntnis, welche Wege man sich sparen kann.

Bild: Leandra Angelucci Cominazzini, "Sternen-Bewegung", 1934: Auch der Westen braucht eine Wende, die in den Köpfen beginnt

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte bis zu seiner Emeritierung Politische Wissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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