© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/03 27. Juni 2003

 
Das Imperium hat seinen Zenit überschritten
US-Außenpolitik: Die zunehmenden Probleme im besiegten Irak mindern auch den Einfluß der Neokonservativen, denen dafür nun die Verantwortung zugesprochen wird
Patrick J. Buchanan

Die fetten Zeiten der Neokonservativen, die mit der "Achse des Bösen"-Rede des Präsidenten im Januar 2002 begannen und bis zum Fall Bagdads andauertern, könnten schon vorbei sein. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß den Neokonservativen nie wieder soviel Ruhm und Flair zuteil werden wird, wie sie ihn während ihrer Kriegsspielerei im Irak genossen.

Dies ist zugegebenermaßen lediglich eine Vorhersage, die aber auf realistischen Annahmen beruht. Warum aber sollte der Neokonservatismus am scheinbaren Höhepunkt seines Einflusses kurz vor dem politischen Aus stehen?

Antwort: Der Neokonservatismus könnte seinen Zenit überschritten haben, weil das amerikanische Imperium seinen Zenit überschritten hat. Der Vierte Weltkrieg, sein imperiales Projekt und das historische Anliegen der Neokonservativen, scheint vom US-amerikanischen Präsidenten höchstpersönlich auf unbestimmte Zeit verschoben worden zu sein.

Zwar ist nach wie vor von "Regimewechseln" in Irak und Nordkorea die Rede. Zur selben Zeit jedoch kehren US-Streitkräfte, die nicht inmitten von Chaos und Anarchie im Irak ihrer Besatzerpflicht nachkommen, nach Hause zurück.

Das erste Anzeichen, daß die amerikanische Hegemonie im Mittleren Osten sich im Abflauen befindet, wurde sichtbar, als Angehörige der amerikanischen Armee und Marine gerade ihren Triumphzug nach Bagdad vollzogen. Plötzlich fand das kriegerische Gebaren der Neokonservativen wie des Pentagons gegenüber Syrien ein jähes Ende, und zwar offenbar auf Befehl des obersten Befehlshabers, des Präsidenten.

Die Amerikaner haben vorerst genug von Invasionen

Außenminister Colin Powell kündigte an, nach Damaskus reisen zu wollen, um Gespräche mit Präsident Assad zu führen. Amerikanische Bodentruppen machten an der syrischen Grenze halt. Unsere Flugzeugträger im Persischen Golf nahmen Kurs auf die Heimat. All das Gerede über irakische Kriegsverbrecher, die sich in Syrien versteckt hielten, und über Saddams Massenvernichtungswaffen, die dort in Sicherheit gebracht worden sein sollten, verstummte plötzlich. "Mission Accomplished" - "Auftrag erfüllt", stand auf dem riesigen Spruchband zu lesen, als Präsident Bush vom Deck der "USS Abraham Lincoln" aus zum amerikanischen Volk sprach.

Als Newt Gingrich bei einer Veranstaltung des American Enterprise Institute (AEI) seine Tirade gegen Powell und das Außenministerium vom Zaun brach und ihnen vorwarf, sich Syrien gegenüber zu nachgiebig zu verhalten, erfolgte keinerlei Reaktion aus dem Pentagon. Es heißt, Karl Rove habe Gingrich eine verbale Tracht Prügel verpaßt und Bush selber sei kurz davor gewesen, dasselbe zu tun, weil er den Angriff auf Powell als Kritik an seiner eigenen Amtsführung verstand. Obwohl ein paar Leitartikler und Kolumnisten Gingrich auf die Schulter klopften, hatten die Neokonservativen zu spüren bekommen, daß sie nicht mehr mit dem Weißen Haus im Gleichschritt marschierten. Und jeder andere Kremlinologist in Washington hatte es auch mitgekriegt.

Warum ordnete Bush an, mit den Drohungen gegen Syrien aufzuhören? Die Antwort liegt auf der Hand. Er hat keinerlei Absicht, diese Drohungen wahrzumachen. Nach den schweren Kämpfen in Afghanistan und Irak haben die Amerikaner die Nase vorerst voll von Invasionen und Besatzungen. Bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen werden die USA sich in beiden Ländern ganz dem "nation-building" hingeben, dem politisch-gesellschaftlichen Auf- und Umbau.

Überdies steht Syrien nicht unter UN-Sanktionen. Sein Staatsoberhaupt hat niemals versucht, den Vater des amerikanischen Präsidenten zu töten. Es liegen keine Beweise vor, daß Damaskus an der Herstellung von Nuklearwaffen arbeiten würde. Für einen Krieg gegen Syrien gäbe es kein grünes Licht vom UN-Sicherheitsrat, keine Unterstützung seitens Nato-Verbündeter, keine Zustimmung des Kongresses. Ein solcher Erstschlag verstieße gegen die amerikanische Verfassung und würde im Ausland als imperialistischer Krieg eines Schurkenstaates betrachtet, selbst wenn es sich bei diesem Schurkenstaat um die Weltmacht handelte. Bei allem Gerede über Unilateralismus und unseren "unipolaren Moment" verspürt Präsident Bush ganz offensichtlich ein Bedürfnis nach Verbündeten im Aus- und Inland, bevor er sich an einen solchen Krieg wagt.

Schließlich sind nur wenige Amerikaner scharf darauf, 17 Millionen Syrer zu adoptieren, nachdem sie gerade erst die Vaterschaft für 23 Millionen Iraker übernommen haben. Damaskus ist eine Brücke zu weit für Bush und Rove, und mit zwei siegreichen Kriegen in zwei Jahren brauchen sie niemandem mehr etwas zu beweisen. Sie scheinen es doch weniger auf das amerikanische Imperium abgesehen zu haben als auf die Wiederwahl, die George W. Bushs Vater verwehrt blieb.

Deshalb gehören die "glory days" vorerst der Vergangenheit an: die ruhmreichen Fernsehbilder, wie amerikanische Spezialeinheiten auf dem Pferderücken durchs afghanische Gebirge galoppierten, Abrams-Panzer durch die irakische Wüste jagten wie einst General Custers Kavallerie gegen die Indianer, wie Saddam-Statuen kopfüber auf die Straßen von Bagdad stürzten und Präsidenten in Kampfpilotenuniform auf den Decks von Flugzeugträgern landeten. Schluß, aus, vorbei.

Und was liegt vor uns? Wie jedes Imperium geht auch dieses in die Defensive über, sobald es aufgehört hat zu expandieren. Wie vor uns die Briten müssen wir nun sichern, konsolidieren, schützen, verwalten und beherrschen, was uns von unseren Kriegen geblieben ist. Wie wir an den Attentaten von Casablanca und Riad gesehen haben, entscheidet nicht Tommy Franks, sondern al-Qaida, wann und wo der Krieg gegen den Terrorismus stattfindet.

Die USA erwarten nur noch schlechte Nachrichten

Mit bisher 25 Toten, Tendenz steigend, seit dem Fall Bagdads beläuft sich das Imperium mittlerweile auf eine Flut von Särgen aus Afghanistan und dem Irak und eine Flut von amerikanischen Steuergeldern in Zehnmilliardenhöhe, die in die andere Richtung fließen, um den Wiederaufbau von Ländern zu bezahlen, die wir besiegt und besetzt haben.

Der Sieg hat unerwartete Probleme mit sich gebracht. Nachdem wir die Kräfte zerstört haben, die den Irak zusammenhielten - Saddams Regime, die Ba'ath-Partei, Republikanische Garde und Armee -, müssen wir nun neue Kräfte aufbauen, um das Land unter Kontrolle zu halten und es gegen die Raubgier seiner Nachbarn zu verteidigen. Und inner- wie außerhalb des Iraks warten islamische und arabische Elemente nur auf die Gelegenheit, uns zu Fall zu bringen.

Teheran und seine Mullahs hatten zwar nichts dagegen, daß wir die verhaßte Taliban zerschlugen und ihren Erzfeind Saddam aus dem Weg räumten. Nach getaner Arbeit ist ihnen die massive amerikanische Militärpräsenz in ihrer Region jedoch nicht länger willkommen.

Vor allem aber scheint es, als habe der amerikanische Präsident von Kriegsherr auf Friedensfürst umgesattelt. Obwohl die Neokonservativen den von dem "Quartett" aus USA, EU, Uno und Rußland aufgesetzten Friedensplan für den Nahen Osten vehement ablehnen, weil er Israels Überleben bedrohe, hat Bush ihm zugestimmt und scheint ernsthaft vorzuhaben, ihn durchzuführen. Die Neokonservativen meckern bereits, er zwinge Scharon, "mit Terroristen zu verhandeln", und sei dabei, "einen neuen Terroristenstaat im Nahen Osten" zu schaffen. Bei der Invasion des Irak stimmten die Interessen des Weißen Hauses noch haargenau mit denen der Neokonservativen überein. In der Israel-Frage liegen sie eindeutig miteinander im Konflikt.

Auch wenn es bislang noch nicht passiert ist, besteht die Möglichkeit, daß unser Bemühen um den Aufbau des Iraks scheitern wird, daß die Amerikaner es leid werden, Menschen und Millionen in dieses Projekt zu stecken, und fordern, daß der Präsident die Truppen nach Hause holt und Irak den Verbündeten, den Arabern oder der Uno überläßt. Sieht man sich Afghanistan, Irak und einen Mittleren Osten an, in dem al-Qaida immer leichtere Beute hat, dann kann es gut sein, daß alle guten Nachrichten hinter uns liegen und wir nur noch schlechte zu erwarten haben.

Sollten wir in Bagdad tatsächlich den Schwarzen Peter gezogen haben, könnte der Präsident uns aus diesem Schlamassel herauszuführen versuchen, bevor wir in 17 Monaten wieder an die Wahlurnen treten. Sobald die Früchte des Sieges zu verfaulen begännen, würden die Amerikaner die Hauptpropagandisten für den Krieg zur Rechenschaft ziehen.

Immerhin waren es die Neokonservativen, die dem Land die Idee verkauft hat, daß der Irak ein riesiges Arsenal an Massenvernichtungswaffen besäße, daß er hinter dem 11. September steckte, daß Saddam Verbindungen zu al-Qaida unterhielte, daß der Krieg ein "Kinderspiel" wäre, daß wir dort als Befreier willkommen geheißen würden, daß unser Sieg demokratische Revolutionen im gesamten Mittleren Osten nach sich ziehen würde. Sollte die Sahne sauer werden, müssen die Neokonservativen sich gegen den Vorwurf verantworten, uns "in den Krieg gelogen" zu haben.

Die Neokonservativen haben sich zu viele Feinde gemacht

Für eine Bewegung, die nur eine kleine Anzahl von Mitgliedern hat und mit ihrer Nähe zur Macht steht und fällt, haben die Neokonservativen schwerwiegende Fehler begangen. Sie haben zu viele Verbündete der USA beleidigt, sich zuviel ihrer Verbindungen und ihres Einflusses gebrüstet, zu viel Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, sich zu viele Feinde gemacht. In einem Schlangennest wie Washington ist ihr überentwickelter Hang zur Eigenwerbung nicht unbedingt ein Vorteil.

Mittlerweile sind ihre sämtlichen Kolumnisten und Sprachrohre - Commentary, National Review, New Republic, Weekly Standard - allgemein bekannt. Die Akronyme, hinter denen sich ihre Interessenvertretungen verbergen, sind längst aufgedeckt: AEI etwa oder JINSA. Ihre Männer an den Quellen der Macht - Perle, Wolfowitz, Feith, Libby, Bolton, Wurmser, Abrams und andere - sind alle entlarvt. Die Neokonservativen gelten inzwischen als separat und weit entfernt von den Bush-Anhängern. Man hat erkannt, daß ihre Loyalitäten und Ziele woanders liegen.

Wenn die Amerikaner zu dem Schluß kommen, daß man sie belogen hat, daß der Irak-Krieg nicht für amerikanische Interessen geführt wurde, daß seine Propagandisten ein heimliches Ziel verfolgten, dann werden sie - wie nach dem Ersten Weltkrieg und der Bloßstellung der "Händler des Todes" - wissen, wem sie die Schuld und die Verantwortung zu geben haben.

Die Schwäche der Neokonservativen liegt darin, daß sie politisch gesehen Parasiten sind. Sie können nur Einfluß nehmen, indem sie sich an mächtige Männer klammern, sei es Senator "Scoop" Jackson, Präsident Reagan oder der Medientycoon Rupert Murdoch. Wenn dieser unfreiwillige "Gastgeber" stirbt oder sich aufs Altenteil zurückzieht, sind sie gezwungen, sich einen neuen zu suchen. Daß sie sich von fast allen anderen rechten Gruppierungen abgesondert und frühere Gesinnungsgenossen immer wieder vor den Kopf gestoßen haben, muß ihnen deshalb zum Verhängnis werden.

Denken Sie nur an die schrillen Anschuldigungen, die die National Review in ihrer Titelgeschichte "Unpatriotic Conservatives" gegen die drei Gründungsredakteure des American Conservative sowie vier unserer Journalisten - Sam Francis, Bob Novak, Justin Raimondo und Eric Margolis - erhob. Uns wurde folgendes vorgeworfen:

"Sie (...) entschuldigen Terror. Sie predigen (...) Defätismus. Einige von ihnen wünschen sich ausdrücklich einen Sieg der Feinde ihres Landes herbei. (...) Nur die kühnsten unter ihnen geben zu, daß sie es gerne sähen, wenn die USA ihren Krieg gegen den Terror verlören. Aber sie denken dauernd an die Niederlage, sehnen sich nach ihr, und sie werden darin schwelgen, falls es soweit kommt. Es begann damit, daß sie die Neokonservativen haßten. Dann fingen sie an, ihre Partei und ihren Präsidenten zu hassen. Inzwischen hassen sie ihr Land."

Diese Litanei hat nichts mehr mit der National Review gemein, wie wir sie von früher kennen. Dies ist die Sprache der radikalen Linken, des Trotzkismus, der Laichbecken des Neokonservatismus. Statt die Neokonservativen als Meinungsführer der Rechten zu bestätigen, verraten derlei wüste Beschimpfungen ihre wahren Ursprünge und vergraulen einen großen Teil der Rechten. Man fragt sich, ob den Neokonservativen überhaupt klar ist, wie viele Menschen hoffnungsvoll den Tag erwarten, an dem sie endlich von ihrem hohen Roß heruntergeholt werden.

Ronald Reagan hatte ein Schild auf seinem Schreibtisch stehen, auf dem zu lesen stand: "There is no telling how far a man can go, as long as he is willing to let someone else get the credit." Man kommt unendlich weit, wenn man nur bereit ist, anderen die Anerkennung dafür zukommen zu lassen - das Problem der Neokonservativen ist, daß sie mehr Anerkennung für Bushs Krieg beanspruchen, als sie verdienen, und sich dadurch als Sündenböcke geradezu anbieten, falls wir den Frieden verlieren sollten.

Nachdem sie lange das Privileg der Kurtisane - Einfluß ohne Verantwortung - genossen haben, könnten sich die Neokonservativen jetzt in der schlimmstmöglichen Lage wiederfinden: Verantwortung ohne Macht.

Foto: Irakische Schiiten verneigen sich vor einem US-Panzer gen Mekka: Sie müssen dafür geradestehen, uns "in den Krieg gelogen" zu haben

 

Patrick J. Buchanan arbeitete unter den Präsidenten Nixon, Ford und Reagan unter anderem als Pressesprecher im Weißen Haus. 1992 und 1996 bewarb er sich als Präsidentschaftskandidat der Republikaner. Sein Aufsatz "Is the Neoconservative Moment Over?", den wir mit freundlicher Genehmigung des Autors hier exklusiv auf deutsch veröffentlichen, stammt aus der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "The American Conservative".


 
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