© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/03 27. Juni 2003

 
Fall Friedman & Co.
Moralisten am Abgrund
Günter Zehm

"Ein Moralist am Abgrund". In diesem Sinne wird zur Zeit im Zusammenhang mit der Affäre um Michel Friedman vielerorts getitelt, doch man fragt sich, wieso ausgerechnet Herr Friedman ein Moralist sein soll.

Der Name "Moralist" gebührte bisher den Vertretern einer bestimmten historischen Literaturgattung, in Frankreich La Rochefoucauld, La Bruyère, in Deutschland Lichtenberg, Nietzsche, durch die Bank Autoren, die das Leben gerade nicht moralisch, nämlich vom Standpunkt einer gewissen Moral aus, betrachteten, sondern so, "wie es wirklich ist". Die Moralisten begehrten nie und nimmer, etwas Besseres zu sein als die übrigen Menschen und diese also "mores" lehren zu dürfen. Sie urteilten nicht vom hohen Roß herunter, sondern aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Sie moralisierten nicht, sondern sie analysierten.

Im Falle Friedman geht es genau andersherum. Er analysiert nicht, sondern er moralisiert. Er hält sich für was Besseres als seine Gesprächspartner und überzieht sie von diesem eingebildeten Standpunkt aus mit Aggressivität und Anklage. Auch weiß er immer genau, was sich gehört, auf welcher Seite also die Guten und auf welcher die Bösen wohnen, und selbstverständlich wohnt er selbst immer auf der Seite der Guten und läßt das jedermann spüren.

Wenn der moderne deutsche Neusprech ein solches Verhalten jetzt als "Moralismus" bezeichnet, so wendet er sich um hundertachtzig Grad vom herkömmlichen Sprachgebrauch ab. Unter einer moralisch gediegenen Persönlichkeit verstand man früher jemanden, der Moral nicht à la Tartuffe im Mund führt, sondern der sie ohne jede Selbstgerechtigkeit vorzuleben versucht, der nicht andere, sondern in erster Linie sich selbst unter strenges Gesetz stellt. Das hat sich geändert, seit einiger Zeit schon.

Arnold Gehlen und Odo Marquard haben den moralischen Neusprech und seine selbsternannten Vertreter längst völlig ausreichend charakterisiert. Die Moral verwandelt sich in "Hypermoral" (Gehlen), und die Vertreter dieser Hypermoral brauchen - laut Marquard - "kein Gewissen mehr zu haben, weil sie selbst das Gewissen sind", jedenfalls ihrer eigenen Überzeugung nach.

Auch wenn sie (einmal ganz allgemein gesprochen) heftig koksen und sich ins kriminelle Prostituierten-Milieu begeben, behalten sie dennoch ihren Status als Hypermoralisten. Jegliches aggressive Nachfragen, das sich an sie selbst richtet, weisen sie mit abgrundtiefer Empörung zurück, oder sie ignorieren es einfach, legen ihre angeborene Beredsamkeit auf Eis.

Ganz unabhängig davon, wie es nun mit den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen weitergehen wird und was für "Enthüllungen" noch ins Medienhaus stehen mögen - die Öffentlichkeit sollte sich schon einmal klarmachen, daß ein Abgrund zwischen Moral und moderner Hypermoral klafft und daß zeitgenössische "Moralisten" einzig in Abgründe stürzen können, die sie sich selbst geschaufelt haben. Das hat nichts Tragisches, es ist komisch.


 
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