© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/03 13. Juni 2003

 
Ein deutscher Aufstand
Warum an den 17. Juni 1953 nur zurückhaltend gedacht wird
Dieter Stein

Der 17. Juni 1953 war einer der wenigen überwältigenden Momente unserer Geschichte, an denen das deutsche Volk sein Schicksal, seine Freiheit und Einheit in die eigenen Hände nahm und dafür auch auf die Barrikaden ging. Welcher Tag, wenn nicht der 17. Juni 1953, kann den politischen Willen unseres Volkes zur Selbstbestimmung und gegen Unterdrückung und Willkür stärker symbolisieren?

Es ist jener Tag, an den in der ehemaligen DDR bis heute erst eine Straße erinnert: nämlich in Taucha, einer Kleinstadt bei Leipzig. Es ist jener Tag, an dem schätzungsweise eine Million Bürger der frischgegründeten DDR in 500 Orten auf die Straße gingen, um für die Beseitigung der SED-Diktatur und demokratische Wahlen zu kämpfen. An die für die Niederschlagung dieses deutschen Volksaufstandes mitverantwortlichen kommunistischen Politiker Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl erinnern bis heute über hundert Straßennamen.

Was sind die Höhe- und Wendepunkte deutscher Geschichte? Fragen Sie einen durchschnittlichen Abiturienten des Jahres 2003, so wird er gemäß bundesdeutschen Lehrplänen auf alle Fälle einige Tiefpunkte aufzählen können. Er ist im Laufe seiner Schulzeit an einer Reihe von Denkmälern vorbeigeführt worden, die an diese schwarzen Stunden der Nationalgeschichte erinnern. Zum Standardprogramm des Geschichtsunterrichts gehört wenigstens eine gemeinsame Busfahrt zum nächstgelegenen ehemaligen Konzentrationslager der Region, aus denen allesamt Erinnerungsstätten an den nationalsozialistischen Totalitarismus geworden sind.

Doch was sind die Höhepunkte der deutschen Geschichte? Hier kommen die meisten schon ins Stottern. Können, wollen oder dürfen wir sie nicht kennen? Zur Erlangung eines ausgewogenen Selbstbewußtseins und einer positiven Identität gehört jedoch nicht nur die Kenntnis von Tief-, sondern auch von Höhe- und Wendepunkten der eigenen Geschichte.

Wie ist es zu erklären, daß ein Volk, das sich ständig einredet und einreden läßt, ein Volk von Duckmäusern, von Untertanen, von hilfswilligen Befehlsempfängern, von einem typisch deutschen "Kadavergehorsam" verpflichteten Soldaten zu sein, so schmählich jener Helden gedenkt, die zu Hunderttausenden das Gegenteil bewiesen haben? Haben wir Angst vor der eigenen Courage?

Die größenwahnsinnigen kommunistischen Jünger Lenins, der noch 1918 über die Revolutionsunlust der Deutschen gehöhnt haben soll ("Wenn die Deutschen einen Bahnhof besetzen wollten, würden sie sich zuerst am Schalter eine Bahnsteigkarte kaufen"), mußten am 17. Juni 1953 jedenfalls erleben, daß die Arbeiter, Bauern und Bürger für ihre Freiheit quer durch die ganze Republik auf die Straßen gingen, um Knechtschaft und Ausbeutung abzuschütteln.

Bis zum 9. November 1989 ist der 17. Juni 1953 interpretatorisch schnell zwischen die Mühlsteine der Propaganda des Kalten Krieges geraten. Vom SED-Regime wurde er als von westlichen Geheimdiensten gesteuerter "faschistischer Putsch" verleumdet, von den Bonner Bundesregierungen als Aufstand für Freiheit und Demokratie zur Legitimation der einseitigen Westintegration mißbraucht.

Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in Europa steht nun aber fest: "Was damals in Ost-Berlin geschah, ist in seiner Bedeutung oft unterschätzt worden: Der Aufstand vom 17. Juni war nicht nur ein kurzzeitiger sozialer Protest, sondern die erste Massenerhebung gegen ein totalitäres Regime in der Geschichte." Dies schreibt der junge Historiker Hubertus Knabe in seinem soeben erschienenen eindrucksvollen Werk "17. Juni 1953 - Ein deutscher Aufstand" (Propyläen 2003). Für Knabe rehabilitieren die mitteldeutschen Aufständischen die am Boden liegende Nation von einem schweren Vorwurf: "Weil die erste Tyrannei dieser Art in Deutschland, die der Nationalsozialisten, nur mit militärischer Gewalt von außen beendet werden konnte, kommt der Erhebung gegen die kommunistische Diktatur im Juni 1953 doppeltes Gewicht zu. Sie widerlegt, daß die Deutschen für totalitäre Systeme besonders anfällig wären und in ihrer Vergangenheit kaum freiheitlich-revolutionäre Traditionen kennen." Die Aufstände in Ungarn 1956 und in der Tschechoslowakei 1968 folgen erst Jahre später.

Der Aufstand des 17. Juni 1953 war nicht an einem Tage erledigt. Es kam bereits Tage zuvor zu Arbeitsniederlegungen und Protesten in Großbetrieben der DDR. Seit dem Tode des Tyrannen Stalin am 5. März 1953 war das an seine maximale Ausdehnung gelangte sowjetische Imperium in seinem Innersten erschüttert. Auch und gerade in der von Moskauer Exilpolitikern errichteten DDR machte sich dies nun bemerkbar. Nicht über Nacht kommt es zum Aufstand. Durch keine einzige demokratische Wahl legitimiert stand das SED-Regime auf schwankendem Fundament. Und so brach sich nach ersten punktuellen, lokalen Protesten und Streiks, die die Schwäche einer Regierung ohne Kompaß an den Tag gebracht hatten, der Volksaufstand mit einer Wucht, Kreativität und Freude Bahn, die dem Betrachter noch heute den Atem rauben muß. Die neuesten Forschungen haben ergeben, daß eben nicht nur die industriellen Kerne, sondern nahezu die ganze DDR bis in den ländlichen Raum von der Revolte erfaßt war, so daß aus einem Arbeiter- schließlich ein Volksaufstand wurde, der alle mitriß - ein erdrückendes Plebiszit gegen die kommunistische Diktatur.

Wer weiß heute denn noch, mit welcher terroristischen Gewalt sich die SED der sowjetischen Besatzungszone unter dem Namen "DDR" bemächtigt hatte? "Über 150.000 deutsche Zivilisten verschwanden damals in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) in Konzentrationslagern, die - wie in Buchenwald und Sachsenhausen - zum Teil dieselben waren wie die der Nationalsozialisten. Mindestens 40.000 Deutsche wurden von sowjetischen Militärtribunalen zu jahrzehntelanger Zwangsarbeit verurteilt und anschließend häufig in Straflager nach Rußland deportiert. Zehntausende starben in der Haft an Hunger, Kälte und Entkräftung; mehrere tausend wurden erschossen oder kamen unter das Fallbeil." (Knabe)

Der 17. Juni 1953 scheiterte nicht an Ulbricht und seinen Genossen. Deren Herrschaft fiel wie ein Kartenhaus zusammen. Er brach zusammen unter der Übermacht von 500.000 in Deutschland stationierten sowjetischen Soldaten und unter dem Gewicht der Panzer der Roten Armee.

Die Tausenden verhafteten und bis heute nicht exakt gezählten getöteten Aufständischen des 17. Juni 1953 stehen neben den Deutschen des 18. März 1848, des 20. Juli 1944 und des 9. November 1989 als Helden unserer Nation.

Doch die Erinnerung ist schamhaft in unserem auch 13 Jahre nach der glücklichen Wiedervereinigung irritierten Land. Es gibt kein würdiges Denkmal. Es gibt keine würdige, große Erinnerung, die alle erfaßt und berührt. Neben einigen alten Kalten Kriegern, die noch einmal auf die Pauke hauen, gibt es ein verlegenes, eilig-pflichtschuldiges Abarbeiten einer Tat, die eben viele Mitläufer und Opportunisten beschämt. Gerade die Intellektuellen in Ost und West haben sich mit einer Revolte, die das Volk und nicht sie anzettelten, nie richtig anfreunden können und deshalb den 17. Juni kleingeredet.

Es fehlt kurz gesagt immer noch ein klares Ja zur eigenen Nation. Erst wenn Deutschland sich wieder zu sich selbst bekennt, wird es auch dem 17. Juni 1953 den ihm gebührenden großen Rang einräumen.

 

Foto: 17. Juni 1953, Potsdamer Platz: Es gibt kein würdiges Denkmal. Es gibt keine würdige, große Erinnerung


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen