© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/03 23. Mai 2003

 
Das demographische Dilemma
von Jens Jessen

Ein Gespenst geht um in Deutschland: die heute 40 Jahre alten Bürger erhalten eine Rente, die ihren Ansprüchen nicht mehr genügt. Keiner sagt den Vierzigjährigen, daß dieses Gespenst sehr real ist als Folge einer folgenreichen Erziehung. Die Deutschen haben gelernt, nach dem Motto "das gönn' ich mir" nur an sich selbst zu denken. Das Ausland erkennt uns nicht mehr wieder: degeneriert, schlaff, feige und undiszipliniert, mit Ansprüchen, die aus den Leistungen nicht abgeleitet werden können. Die kürzesten Arbeitszeiten, die höchsten Arbeitskosten, die längsten Ferien und die wenigsten Kinder haben zur Krise geführt. Das Land der Dichter und Denker, das Land der Optimisten in Krieg und Frieden, wird heute bewohnt von kleinkariert Angepaßten und Reformfeinden. Weinerlichkeit, Selbstmitleid und Angst vor Veränderungen dringen aus diesem Land des morbiden Hedonismus und der Dekadenz nach draußen. Diese deutsche Antriebsarmut ist es auch, die für die abnehmenden Geburtenraten sorgt: Kinder sind "stressig". Das Wirtschaftswachstum nähert sich der Nullgrenze, die Sozialsysteme marschieren stramm auf den Konkurs zu, die Bevölkerung verringert sich rasant.

Herwig Birg, Professor für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik an der Universität Bielefeld, hat in seinem Buch "Die demographische Zeitenwende" die Frage gestellt, warum Erkenntnisse der Bevölkerungsforschung in Deutschland systematisch ignoriert werden. Der ehemalige Ministerpräsident von Sachsen, Kurt Biedenkopf, hat zum 20jährigen Bestehen des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft (IWG) in Bonn am 10. Oktober 1997 einen Erklärungsansatz geliefert. Er wies auf den Unwillen der Politiker hin, demographische Prognosen für seriös und politisch relevant zu halten. Noch Ende der achtziger Jahre habe sich der zuständige Bundesminister geweigert, demographische Prognosen für möglich anzusehen, die über das Jahr 2005 hinausreichten. Der Bevölkerungsschwund, auf den schon das Weltwirtschaftliche Institut in Kiel vor 28 Jahren in einer Publikation hinwies, fügt sich heute "nahtlos in die innere Logik einer Gesellschaft ein, deren gefallsüchtige Spitzenpolitiker im Korybantenlärm der Schwulen-, Lesben- und Transvestitenparaden auf dem Prunkwagen mitschunkeln", wie es die Wirtschaftswoche in ihrer Ausgabe vom 15. November 2002 unter der Überschrift "Die Deutschen - Ein Nachruf" so treffend beschrieb.

Eine im Durchschnitt hohe Lebenserwartung aller bereits Geborenen und eine konstant niedrige Geburtenzahl bei mangelnder Anstrengung, daran etwas zu ändern, legen die natürliche Entwicklung der Bevölkerungszahl auf Jahrzehnte hinaus fest. Wenn die Zahl der Geborenen nicht ausreicht, um die vorhergehende Generation zu ersetzen, nimmt die Bevölkerung ab. Dazu muß man kein Wissenschaftler sein. Zum Erhalt der Bevölkerungszahl sind in Deutschland durchschnittlich 2,2 Kinder pro Frau nötig. Seit 30 Jahren sind es 1,3 Kinder pro Frau. Verhalten sich die schwachen Geburtsjahrgänge wie ihre Eltern, wird der Bevölkerungsrückgang beschleunigt. Jede zusätzliche Generation mit gleichem Verhalten führt zu einer immer stärker werdenden Abnahme der Deutschen. Die seit über 25 Jahren anhaltenden Geburtendefizite werden schon am Ende des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts einen Abnahmesog einleiten, der zuerst die Jahrgänge der Jugendlichen, dann die der Erwerbsfähigen und schließlich die Gesamtbevölkerung erfaßt.

Eine zeitlich begrenzte geringe Gegenbewegung ergibt sich dadurch, daß die Menschen in unserem Land älter werden. Im Jahr 2040 wird sich der Kinder- und Jugendanteil an der Bevölkerung drastisch verringert und der Anteil der über 65 Jahre Alten verdoppelt haben. Auf hundert Erwerbsfähige kommen dann schon 102 Abhängige (unter 25 Jahre und über 65 Jahre). Heute sind es 100 Erwerbsfähige bei 80 Abhängigen. Bis zum Jahr 2050 wird die deutsche Bevölkerung um 16 Millionen geschrumpft sein, bis Ende des Jahrhunderts gibt es noch 24 Millionen Deutsche. Es ist fraglich, ob eine laufend alternde Bevölkerung das leisten kann, was die vorhergehende Generation von ihr verlangt: höhere Belastungen für die Rentenversicherung, um die Elterngeneration ausreichend zu versorgen. Die Riesterrente wird an den Rentenzusagen wenig ändern. Rücklagen, aus denen diese Ansprüche bedient werden können, die 270 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) bis zum Jahr 2050 ausmachen, gibt es nicht. Das umlagenfinanzierte Rentensystem in Deutschland zahlt jetzt das aus, was in der Rentenkasse ist.

Zu fragen bleibt, ob von relativ weniger Erwerbstätigen die Dienstleistungen und Produkte erzeugt werden können, die es ihnen erlauben, die Sozialversicherungen zu finanzieren. Dazu wäre es nötig, daß die dann noch erwerbsfähige Bevölkerung bereit ist, hohe Qualifikationen in Wissenschaft, Berufsausbildung und Weiterbildung zu erwerben. Nur so könnte unsere Wirtschaft auf den Weltmärkten bestehen, auch wenn die dann Erwerbstätigen im Durchschnitt über 40 Jahre alt sind.

Heute fehlen dafür die Perspektiven. Kindergärten, Schulen und Universitäten sind die teuersten und unwirtschaftlichsten Einrichtungen bei dem Vergleich von Kosten und Ertrag. Das Ergebnis der Pisa-Studie ist kein Zufall. Auf die Politik zu hoffen, ist tollkühn. Die Politik bemüht lieber den administrativen Bereich, wie die Einbürgerung, um sich des demographischen Dilemmas nicht annehmen zu müssen. Wenn die Rentenkassen leer sind und notwendiges Humankapital schon fehlt, wird es schwer sein, an mehr Geburten zu denken.

Es ist ein Trugschluß, mit der Implosion der Bevölkerung würde ein Mitteleuropa mit unberührter Natur entstehen. Die Dörfer und die Städte werden bewohnt sein. Deutschland wird nicht in dem Maße entvölkert, wie die deutsche Bevölkerung abnimmt. Bei einer weiteren Zuwanderung wird in Deutschland, um mit Herwig Birg zu sprechen, eine "Multiminoritätengesellschaft" entstehen.

Irenäus Eibl-Eibesfeld hat in "Wider die Mißtrauensgesellschaft" (3. Auflage 1997) davor gewarnt, Minoritätenbildung zuzulassen. Politiker, die dem eigenen Volk einreden, es komme nicht auf das Überleben in eigenen Nachkommen an, wollen seiner Ansicht nach den Ethnosuizid ihres Volkes. "Man handelt nicht gut, wenn man die Überlebenschancen seiner Kindeskinder einschränkt und damit gefährdet, noch hilft man den Bewohnern der Dritten Welt, indem man ihnen das Land öffnet."

Das Kurzzeitdenken der deutschen Wirtschaft fordert mit Vehemenz eine verstärkte Einwanderung, um sich vor kapitalintensiven Rationalisierungsinvestitionen wie in den sechziger Jahren vorbeizumogeln. Die Ökonomen sind sich darüber einig, daß das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung heute um neun Prozent höher wäre, wenn vor 45 Jahren nicht die ungelernten Gastarbeiter nach Deutschland gelockt worden wären. Eine Einwanderung, die nur der Wirtschaft gefällt, weil sie für die Integrationskosten der einwandernden Arbeitnehmer in Ländern und Gemeinden nicht aufkommen muß, sollte sich deshalb gesetzlich fixiert nicht wiederholen. Nichtintegrierte Einwanderer können verständlicherweise zum Staatserhalt nichts beitragen.

In der Welt am Sonntag vom 16. Februar 2003 beklagte Meinhard Miegel, Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn, die schwer- wiegenden Mängel des rot-grünen Zuwanderungsgesetzes. Die Integrationskosten sind seiner Ansicht nach viel zu niedrig angesetzt. Mit monatlich 107 Euro für Sprach- und Einbürgerungskursen pro Zuwanderer läßt sich - so Miegel - keine Integration erreichen. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund rechnet mit 283 Euro pro Monat, Miegel mit rund 500 Euro. Das entspräche dem Betrag, den Eltern für ein Kind aufzuwenden hätten.

Erfolgreiche Integration ist nach Miegels Ansicht nur möglich, wenn die Ausländerkinder möglichst früh zu ihren Eltern nach Deutschland kämen. Ein Zuzugsalter bis 12 Jahre würde eine Integration nahezu unmöglich machen. Die bisherige Zusammenführung von ausländischen Eltern mit ihren Kindern hat, so Miegel, dazu geführt, daß die Zuwanderer mehr Kosten verursachen als Erträge. Während die Zahl der Ausländer in den neunziger Jahren um 1,5 Millionen gestiegen ist, hat die Zahl der erwerbstätigen Ausländer nur um 400.000 zugenommen. Die Arbeitslosenrate der Ausländer ist nach Miegel doppelt so hoch wie die der Deutschen, jeder vierte Sozialhilfeempfänger kommt aus den Reihen der Zugewanderten.

Die Behauptung der Bundesregierung, die Zuwanderung belaste die gebeutelten Sozialeinrichtungen nicht, hat Bayerns Innenminister Günther Beckstein zurückgewiesen: "Das Gegenteil ist der Fall. Von Zuwanderung profitieren in erster Linie die Zuwanderer, nicht der Staat." Eine Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung aus dem Jahr 2001 kommt zum gleichen Ergebnis. Nur bei einer Aufenthaltsdauer von mindestens 25 Jahren in Deutschland sind die geleisteten Zahlungen der Zuwanderer höher als die empfangenen. Ein Zuwanderer, der bis zu zehn Jahre bleibt, kostet jedes Jahr 2.368 Euro. Laut Statistischem Bundesamt lebt nur jeder vierte Ausländer 25 Jahr und länger in Deutschland.

In einer Untersuchung hat Herwig Birg für das Jahr 2000 festgestellt, daß 5,5 Millionen Ausländer mehr Zahlungen erhielten, als sie leisteten. Für den Staat und seine Sozialeinrichtungen entstehen dadurch pro Jahr Mehrkosten von 10,7 Milliarden Euro (Welt am Sonntag,
29. September 2002). Die Ghettobildung, die das Erlernen der deutschen Sprache als Integrationsvoraussetzung hemmt, ja sogar verhindert, wird beklagt, aber nicht aktiv bekämpft. Die Städte verkraften die Lasten aus den Sozialhilfekosten nicht mehr. Je mehr Ausländer in einer Stadt wohnen, desto schwieriger ist die finanzielle Lage. Die Sozialhilfequote für Deutsche betrug Ende 2000 bundesweit 2,8 Prozent, die der Ausländer 8,1 Prozent. Die Folgen und die Kosten dieser Entwicklung trägt der Steuerzahler, nicht die Wirtschaft.

Aus diesen Ergebnissen folgert Josef Schmid, Professor für Bevölkerungswissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, in der FAZ vom 31. Mai 2000: "Großzügige Familienzusammenführung, Staatsbürgerschaftsverleihung, Aufenthaltsduldung nach abgelehntem Asylantrag, hohe Arbeitslosenraten und hoher Sozialhilfeanteil der ausländischen Bevölkerung müßten da in Schranken gewiesen werden."

Die Politiker verjagen Jahr für Jahr mehr Deutsche aus dem Land. 1974 zogen nach Recherchen des wirtschafts- und sozialpolitischen Sprechers der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Johannes Singhammer, 25.168 Deutsche in das Ausland. 1999 waren es schon 116.410. (Die Zahl der über 65 Jahre alten Deutschen war marginal. Sie betrug nach Singhammers Angaben rund 5.000.)

In zehn Jahren belief sich die Zahl der Besserverdienenden und Höherqualifizierten, die Deutschland verließen, auf 1,1 Millionen. Gründe für die Auswanderung sind hohe Abgabenlast, ein ungerechtes Steuersystem, überbordende Bürokratie und damit verbundene mangelnde Flexibilität sowie eine unzureichende Innovationsförderung. Der Verlust der jungen Auswanderer verschlechtert die Generationenbilanz und die Situation der Sozialeinrichtungen. Das Thema ist trotz seiner Brisanz tabu. Dabei würde die Verringerung des Verlustes der Intelligenz und Fähigkeiten positivere Effekte haben als die Zuwanderung. Die Politik aber tut nichts, um den Zustand zu verändern.

Bevölkerung ist in Deutschland in ihrer Gesamtheit - anders als in Frankreich - kein Thema. In Deutschland wird Familienpolitik nur als soziale Gerechtigkeit und Lastenausgleich gesehen. Das aber reicht nicht. Es fehlen pro Jahr 200.000 Geburten, um den Sterbeüberschuß auszugleichen. Das ist nahe an der Zahl der Abtreibungen. Weitere 100.000 Geburten sind nötig, um die Abwärtsspirale der Bevölkerungszahl ab dem sechsten Jahrzehnt des Jahrhunderts aufzuhalten. Um die finanziellen Nachteile von Familien gegenüber Kinderlosen zu beseitigen, wird auf Dauer darüber nachgedacht werden müssen, ob langfristig den Kinderlosen noch Rente zu zahlen ist. Kinderlose könnten die ersparten "Opportunitätskosten" im Vergleich zu Eltern mit Kindern für den Aufbau einer privaten Rentenversicherung verwenden. Eine Entschärfung der harten Einschnitte im Rentensystem wäre dadurch denkbar.

Es ist dringend erforderlich, in eine Infrastruktur zu investieren, die Familien gerecht wird. Dazu gehören ausreichender Wohnraum, der Dialog zwischen Familien und Politikern und die Koordinierung von Angeboten für die Freizeit von Familien mit Kindern. Die Kinderbetreuung ist zu verbessern. Familie muß wieder ein Zeichen erfolgreicher Menschen sein. Der Prozeß der Familienentwicklung sollte gefördert werden durch frühzeitige Vorbereitung der Jugendlichen in der Schule auf Partnerschaft, Ehe und Elternschaft. Auch heute ergeben Befragungen, daß die Idealfamilie zwei Kinder haben sollte. Fünfundzwanzig Prozent sehen den Idealzustand bei drei Kindern. In der Realität ist das ganz anders, weil Frauen und Männer auf die Ehe und eine Familie mit Kindern nicht vorbereitet werden. Deshalb wollen Bayern, Bremen und Nordrhein-Westfalen ihr Beratungsangebot für Ehepaare und Familien ausbauen. Diese Maßnahmen werden vielleicht zu einer Erhöhung der Geburten führen, die aber nicht annähernd ausreichen wird, die Geburtendefizite auszugleichen.

Nirgendwo steht geschrieben, daß ein Land die Zahl seiner Einwohner konstant halten muß. Deutschland ist übervölkert. Eine Reduktion auf 50 Millionen Einwohnern täte dem einzelnen, den Familien und der Umwelt sicher gut. Dann muß jedoch eine neue Familienpolitik begleitet werden durch eine Rentenpolitik, die erhebliche Einschnitte mit sich bringt, um das System noch finanzieren zu können. Die demographische Alterung wird bei allen gesellschaftlichen Entwicklungen in den nächsten Jahrzehnten eine dominierende Rolle spielen. Statistiker gehen unter Zugrundelegung des längerfristigen Trends davon aus, daß der Geburtsjahrgang 2050 mit einer um 12 Jahre verlängerten Lebensdauer rechnen kann. Das hieße, Männer könnten im Durchschnitt 86 Jahre alt werden, Frauen 92 Jahre. Das ist auch der Grund, weshalb die Lebensarbeitszeit schrittweise erhöht werden wird. "Langfristig müssen wir uns darauf einstellen, daß wir tatsächlich erst mit 65 statt mit 60 in Rente gehen", zitiert die Wirtschaftswoche vom 15. November 2002 Axel Börsch-Supan, Direktor des Mannheimer Forschungsinstituts Ökonomie und Demographischer Wandel.

Eine konzertierte Aktion zur Umsetzung des Umbaus der Sozialsysteme in Deutschland hat nicht mehr viel Zeit. An der Rentenreform zeigt sich das. "Die bei einer einschneidenden Rentenreform entstehenden Belastungen werden nur innerhalb der nächsten zehn Jahre einigermaßen erträglich sein", stellt Dirk Popielas, Leiter des Bereichs Pension Services bei Goldmann Sachs in Frankfurt fest. Geschieht das nicht, ist die Zahl der Wähler über 50 so groß, daß Besitzstände von der Politik nicht mehr angetastet werden können. Die Leidtragenden wären die dann Erwerbstätigen, die in der herrschenden Gerontokratie nichts mehr zu sagen, sondern nur noch zu zahlen hätten.

Federico de Pistoris, "Frau und Ambiente", 1922/23: Die Mutter ist als Leitbild nicht mehr gefragt

 

Prof. Dr. Jens Jessen schrieb zuletzt in JF 17/03 über das Rürup-Gutachten: "Sparen ohne Verstand".


 
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