© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/03 23. Mai 2003

 
Das Politische im nachpolitischen Raum
Georg Friedrich Händels "Julius Cäsar in Ägypten" ist aktueller als an der Staatsoper Stuttgart gezeigt
Jens Knorr

In Rom herrscht Bürgerkrieg, in Kampanien meutern die Veteranenlegionen, die spanische Provinz droht abzufallen, geschlagene Heere formieren sich neu, und selbst die eigenen Soldaten rebellieren schon, doch Julius Cäsar, unerreichbares Vorbild aller Diktatoren, hat in der ägyptischen Provinz festgemacht, der 52jährige liegt bei einer 21jährigen vor Anker. Waren die neun Monate, die der römische Konsul bei der ägyptischen Prinzessin verbrachte, nun eine gute oder schlechte Zeit für Rom? Was ist Händel und seinem Librettisten Haym der neue Herkules, als den sie Cesare in der Eröffnungsszene ihres Dramma per musica feiern lassen, was der neue Alexander, als den sie ihn vor dem Grab des Pompeo zeichnen? Und was ist Giulio Cesare uns?

An der Staatsoper Stuttgart betreten noch vor Beginn der Ouvertüre nach und nach acht Gestalten die Vorbühne - Menschen wie du und ich, nur grell und bizarr überzeichnet, damit du und ich uns ja auch wiedererkennen -, verschwinden einer nach dem anderen in einem Fotofix-Automaten, nicht ohne vorher ihre Münze eingeworfen zu haben. Jedem sein Blitz, eine Fotografie wird angezeigt - die Fotografierten jedoch sind verschwunden. Und noch bevor der Vorhang eigentlich hochgeht, finden wir die acht Gestalten vor hoher schwarzer Wellblechwand wieder, die sich zum schwarzen Kasten in weißer Kastenbühne wandeln wird, und die Gestalten selbst finden sich in Ägypten wieder.

Längst müßten wir uns mitten in der Handlung von Händels Oper befinden, da muß uns Regisseur Martin Kusej noch immer demonstrieren, wie er sich einem fremden wie eigenen, fernen wie nahen, barocken wie modernen Stück nähert, es umschleicht, wie seine Handelnden auf der Bühne die ägyptische Pyramide umschleichen, die der schwarze Kasten birgt. Und die Sänger müssen demonstrieren, wie sie sich Operngestalten anverwandeln und auch wieder nicht, wie sie ihre Gestalten umschleichen, ohne sie je treffen, sie in Besitz nehmen, ohne ihrer je habhaft werden zu können.

Erst zappeln die acht unter Kopfhörern zu Händelmusik, die glücklicherweise nicht aus den Kopfhörern, sondern aus dem Orchestergraben kommt, dann fingert der Penner von vorhin einen frisch abgeschlagenen Kopf aus seinem Rucksack, Achilla präsentiert das Haupt des besiegten Pompeo, und die Dame, die sich vor dem ausblutenden Amputat am heftigsten erschrak, klagt als frischgebackene Witwe Cornelia um den Gatten. Die geheimen Gänge der Pyramide bergen güldene Statuetten, rieselnden Sand oder hinterhältige Mörder, die Axt im Gewande, auf öffentlichen Treppen präsentieren sich einmal eine Menge Damenschuhe, die aus dem Besitz der Imelda Marcos stammen könnten, oder ein andermal ein Liebeszelt im Augenblick des Abrutschens, und immer präsentieren sich die Sänger in dekorativen Bildern, selten in erzählenden Arrangements, wenn sie gerade einmal nicht gemessenen Schrittes die Pyramide umrunden, immer irgendwie betroffen, jedoch eher affektiert als innerlich bewegt.

Wovon auch sollten sie innerlich bewegt sein, diese aus der Zeit gefallenen, hilflos zwischen den Zeiten vagabundierenden Leute, weder dem Heute noch der Händel-Renaissance noch der Römerzeit zugehörig - oder doch bloß Opernsänger, die mit dem Auftrag, Händels Ägypten seelisch zu erkunden, vom Auftraggeber schmählich im Stich gelassen wurden?

Denn den szenischen Rahmen, der die Handlung im Hier und Jetzt verankern soll, braucht Kusej nur darum, weil er der Handlung selbst keine Aktualität abzugewinnen vermag. Die Sänger und die Zuschauer brauchen ihn ganz bestimmt nicht! Die brauchen vielmehr einen Regisseur, der imstande ist, aus der Musik nicht nur Einstimmung, sondern auch Aussage zu lesen und szenisch zu interpretieren. Die brauchen den Regisseur, der bei einer Oper, in der in jeder zweiten Nummer von Herrschaft, Herrschen und Selbstbeherrschung gesungen wird, genauer danach fragt, was denn eigentlich Fremdheit und Nähe, Historizität und Aktualität ausmacht, wer Frau ist und wer Mann und wer warum mit der Stimme des anderen Geschlechts singen muß oder darf.

Daß die Stuttgarter Aufführung des "Giulio Cesare" von einigen stimmigen szenischen Momenten abgesehen nicht rettungslos auseinanderfällt, verdankt sie der musikalischen Interpretation Raymund Leppards, bei der klassizistische Strenge und historische Aufführungspraxis friedlich koexistieren, dem Stuttgarter Solistenensemble und einem äußerst beredten, eigensinnig kommentierenden, kurz: gestisch musizierenden Continuo. Und ihnen verdankt sie die wahrhaftigen Momente abgrundtiefer Verzweiflung, der weltumfassenden Einsamkeit aller Figuren in ihrer erbärmlichen Pracht und mit ihren verlorenen Siegen, Momente blitzartiger Einsicht in die Ausweglosigkeit einer Geschichte, die von allen gemacht wird, obwohl sie nicht ihre Geschichte ist, aber aller Geschichte ist, weil alle sie machen.

Da brennt die Luft, da brennt der Nahe Osten, erstehen und vergehen tausendjährige Kulturen im erfüllten musikalischen Augenblick, und während Cleopatra, die Schlange mit der Schlange, goldumglänzt und spitz auf der Pyramidenspitze thront, mit ihrem "Vadoro, pupile ..." Giulio Cesare zugleich hinanzieht und hinunter auf die Stufen drückt, während Frauenhände Cäsar angreifen, greift ein Liebeszittern aus dem Orchestergraben nach dem Hörer und bringt innere Bilder herauf, vor denen die szenische Seelenfotografik sang- und klanglos vergeht.

Tichina Vaughn, Markus Marquardt, H. Ranada: "Vom Auftraggeber schmählich im Stich gelassen"

Die nächsten Vorstellungen in der Staatsoper Stuttgart, Oberer Schloßgarten 6, finden statt am 23. Mai, 6. und 8. Juni. Beginn jeweils um 19.30 Uhr. Info: 07 11 / 20 32-0


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen