© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/03 23. Mai 2003

 
Die Zeit ist reif
Deutschland braucht eine neue Verfassungswirklichkeit
Alexander Griesbach

So mancher Zeitgenosse reibt sich in diesen Tagen verwundert die Augen, wenn er jenes Hamburger Nachrichtenmagazin aufschlägt, das seine jüngste Ausgabe mit der Schlagzeile "Die Stunde der Wahrheit im Land der Lügen" aufmacht. "Lügen, unterdrückte Tatsachen und Realitätsverweigerung", so wird in der Spiegel -Titelgeschichte konstatiert, "gehören längst zum Alltag in der Politik." Dieses "Land der Lügen" sieht sich in diesen Tagen in einem Maße angezählt, wie es selbst seine Kritiker nicht für möglich gehalten hätten.

Ein Effekt der überall grassierenden Krisenstimmung: Themen, die früher tabu waren, werden plötzlich "diskursfähig". Und nicht nur das: für hoffnungslos rückwärtsgewandt wird derjenige erklärt, der sich der sozialpolitischen Abrißbirne, mit der in diesen Tagen eine Generalsanierung ermöglicht werden soll, verweigert. Selbst vor der Heiligen Kuh dieser Republik, nämlich dem Grundgesetz, schreckt der Spiegel nicht mehr zurück. Er erklärt die Verfassung für "verstaubt" und modernisierungsbedürftig.

Damit besetzt der Spiegel ein Thema, mit dem früher entweder "die Rechten" oder Einzelkämpfer wie Hans-Herbert von Arnim in Verbindung gebracht worden sind. Jetzt also hat der Spiegel die Zeichen der Zeit erkannt und trommelt in mehreren Folgen für eine Verfassungsreform, mittels derer der Sanierungsfall "Deutschland AG" wieder wettbewerbsfähig gemacht werden soll. Warum diese Reform notwendig ist, zeigt der Spiegel an einer Reihe von Fehlentwicklungen.

Diese stehen zum einen im Zusammenhang mit der ordnungspolitischen Verwahrlosung Deutschlands, für die Stichworte wie Staatsverschuldung und Kapitalverzehr, Unfähigkeit zum Subventionsabbau, Bürokratisierung, fehlende Konzepte im Hinblick auf steigende Arbeitslosenzahlen usw. stehen. Weiter ist hier die Deformation der parlamentarischen Demokratie zu nennen, die durch fehlende direktdemokratische Elemente, Ämterpatronage, Berufspolitikertum und die Dominanz des öffentlichen Dienstes bestimmt wird. Alles Themen also, die seit langem auf der Agenda stehen.

Ebenso wie die Lösungsvorschläge, die jetzt ventiliert werden. Sei es nun die Forderung nach einer Neubestimmung der Staatsaufgaben, die Eindämmung der Parteienherrschaft durch direktdemokratische Elemente, die Forderung nach einem fiskalischen Wettbewerb auf allen Ebenen oder nach Zurückdrängung des Berufspolitikertums. Begrüßenswert ist dennoch, daß diese Debatte um notwendige Reformen jetzt endlich von einem Medium initiiert worden ist, das maßgeblich zur Meinungsbildung in Deutschland beiträgt. Vielleicht bewirkt die Spiegel-Serie das, was die "Gemeinsame Verfassungskommission" des Bundestages und des Bundesrates im Zuge der Wiedervereinigung nicht zuwege gebracht hat: nämlich den Anstoß hin zu einer konstitutionellen Erneuerung Deutschlands.

Die Verfassungskommission war in gewisser Weise Ausdruck des Dilemmas, in dem in Deutschland noch alle Reformbemühungen steckengeblieben sind. Man begann bereits mit einer Vorgabe, die im Grunde jede weitere Arbeit überflüssig machte: nämlich, daß das Grundgesetz sich bewährt habe und es nur marginaler Korrekturen bedürfe. Bezeichnend auch, daß diese Kommission nur aus Parteipolitikern zusammengesetzt war. So wurde die zentrale Frage, nämlich was eine handlungsfähiger Staat heute leisten muß, gar nicht mehr diskutiert. Daß auch diese - leicht modifizierte - Verfassung dem deutschen Volk nicht zur Abstimmung vorgelegt wurde, rundet das Bild ab.

Nun also scheint die Zeit endlich reif für eine entsprechende Diskussion zu sein. Die Frage ist nur, welche politische Kraft macht sich diese notwendigen Korrekturmaßnahmen am Grundgesetz zu eigen? Daß diese von den etablierten Parteien ausgehen könnten, erscheint aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ausgeschlossen. Insbesondere die Unionsparteien haben sich in den zurückliegenden Jahren im Hinblick auf direktdemokratische Elemente als intransigent erwiesen.

Auch keine derjenigen Parteien, die derzeit in keinem Bundes- oder Landesparlament vertreten sind, drängt sich in dieser Frage auf. Initiativen im Hinblick auf die Implementierung direktdemokratischer Elemente sind bezeichnenderweise vor allem das Thema von Bürgerinitiativen geblieben. Deren politische Durchschlagskraft ist aber regional begrenzt.

Entscheidend für die weitere Entwicklung Deutschlands dürfte unter dem Strich aber nicht die Frage sein, in welcher Art und Weise das Grundgesetz reformiert werden muß, sondern mit welchem Geist dieses erfüllt wird. Dies heißt konkret: Wir müssen in Deutschland zu einer anderen Verfassungswirklichkeit kommen. Die Handhabung des Grundgesetzes in der Praxis durch die Verfassungsorgane und die politischen Parteien muß eine andere werden. Diese Handhabung hat sich an einer einzigen Prämisse auszurichten: nämlich an der Frage, was deutschen Interessen dienlich ist - und was nicht.

Viele der Probleme, vor denen Deutschland heute steht, resultieren aus der Tatsache, daß diese zentrale Frage in der Vergangenheit "in kosmopolitischer Absicht" ignoriert wurde. Jetzt, und hierin hat die aktuelle Krise ihr Gutes, gibt es vor diesem Imperativ kein Ausweichen mehr.


 
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