© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/03 16. Mai 2003

 
Kritiken im virtuellen Raum
Der Suhrkamp Verlag erlebt zum zweiten Mal, daß Bücher von ihm rezensiert werden, die noch nicht erschienen sind
Andreas Wild

In frischer böser Erinnerung ist noch der Skandal um den im Frankfurter Suhrkamp Verlag herausgekommenen Roman "Tod eines Kritikers" von Martin Walser, den einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, zu einem Zeitpunkt aus politischen Gründen in schlimmster Weise in Grund und Boden geschrieben hat, als das Werk noch gar nicht erschienen war und auch die unter einigen Kritikern umlaufenden Druckfahnen weder von Walser noch von Suhrkamp autorisiert waren. Jetzt erschien, in der Tageszeitung Die Welt, wiederum die Rezension eines Suhrkamp-Buches, das es (noch?) nicht gibt und von dem eventuell umlaufende Druckfahnen nicht autorisiert sind: die Besprechung einer Biographie des Philosophen Ernst Bloch von Arno Münster. Allmählich wird es peinlich für Suhrkamp.

Der Text in der Welt war recht trist, nährte die Vermutung, daß Münsters Opus vor Fehlern und Falschdarstellungen strotzte und sehr kritikabel war. Aber niemand konnte das nachprüfen, denn das besprochene Buch existiert eben nicht. Suhrkamp erklärt, daß zwar ein Typoskript von Münster beim Verlag liege, sein Erscheinen als Buch jedoch "auf unbestimmte Zeit verschoben" sei. Man wird seine Gründe dafür haben.

Was lehrt uns der neuerliche Fall? Wird hier etwa ein Exempel statuiert, soll man sich darauf einstellen, daß künftig Kritiken ohne zugehöriges Kritikobjekt unter die Leute gebracht werden, gewissermaßen Kritiken im virtuellen Raum, die sich ihr Objekt nach eigenem Gusto erschaffen? Das wäre für die Kritiker natürlich außerordentlich bequem, für den Berufsstand des Autors hingegen genierlich und letzten Endes desaströs.

Dessen Position im Medienbetrieb wird ohnehin immer schwächer, er steht nur noch am Anfang von sogenannten "Verwertungsketten" und könnte eines nicht fernen Tages tatsächlich abgeschafft und durch reine Fiktion ersetzt werden. Muß dabei jedoch ausgerechnet Suhrkamp den Vorreiter machen?


 
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