© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/03 09. Mai 2003

 
Markt und Moral gehen zusammen
von Wolfgang Ockenfels

Trotz "Globalisierung" und "Standortdebatte" kann in Deutschland kaum von "mehr Markt" oder von "Deregulierung" des Wirtschaftslebens die Rede sein. Wir sind immer noch das Land mit den größten Arbeitskosten, den höchsten Unternehmenssteuern, den kürzesten Arbeitszeiten, den ältesten Studenten und den jüngsten Rentnern. Doch vor dem globalen Markt und seiner Leistungsgerechtigkeit sind alle gleich: Es gibt auf Dauer keine Privilegien für eingesessene Leistungseliten und keine Bestandsgarantien für soziale Errungenschaften. Gehören die Deutschen bald zu den Verlierern der "Modernisierung"? Bricht bald eine "neue Armut" über uns herein? Steht im angeblichen "Turbokapitalismus" eine neue Klassenspaltung zwischen Arm und Reich bevor?

Wenn dramatisch nach den Überlebenschancen unseres Sozialstaats gefragt wird, haben wir mehrere Krisenphänomene im Blick, die ihn in besonderer Weise berühren, und zwar über die Globalisierung der Märkte hinaus. Zunächst haben wir es in allen westlichen Industrieländern mit einem gesellschaftlichen "Wertewandel" zu tun, den man partiell auch als "Werteverfall" charakterisieren kann und der durch seine Individualisierungstendenzen und Emanzipationsbestrebungen zur Krise fast sämtlicher Institutionen geführt hat. Im Zuge der Individualisierung haben sich die Wertvorstellungen erheblich pluralisiert. Dabei wird Freiheit nicht selten hedonistisch verzerrt, egoistisch verengt oder als bloße Emanzipation mißverstanden. Der "Wertewandel" kann jedoch auch als Chance zu mehr Eigeninitiative und Selbstverantwortung begriffen werden. Diese Chancen werden jedoch zu wenig wahrgenommen.

Ferner haben wir es mit einer Bevölkerungsentwicklung zu tun, welche unser Land zu einem großen Altenheim werden läßt und dem Generationenvertrag die Grundlage entzieht. Schließlich ist der Sozialstaat inzwischen auch deshalb krisenhaft erschüttert, weil er sich mit Funktionen überladen hat, die einst den Familien zustanden. Diese zusammenwirkenden Faktoren bedrohen nicht nur die Grundlagen des Sozialstaats, sondern auch den Bestand der Familie.

Inzwischen hat sich auch in der politischen Linken herumgesprochen, daß das momentan vorrangige Problem der Arbeitslosigkeit eben auch in den hohen Arbeitskosten liegt. Hier zeigt sich folgendes Dilemma: Je höher die Arbeitskosten getrieben werden, desto größer wird die Arbeitslosigkeit, die ihrerseits den Sozialstaat überfordert, der mit seinen Kosten die Schaffung neuer Arbeitsplatze verhindert. Die beste Voraussetzung für Sozialpolitik ist eine florierende Wirtschaft mit einem hohen Beschäftigungsgrad, also eine Wirtschaftspolitik, die den Leistungsfähigen auch Arbeitsmöglichkeiten gibt. Ein expandierender Sozialstaat entzieht der Wirtschaft gerade jenes Kapital, das sie zur Modernisierung und zur Sicherung der Konkurrenzfähigkeit investieren müßte. Eine funktions- und leistungsfähige Wirtschaft gilt als Voraussetzung für Sozialpolitik, die ihrerseits aber auch Voraussetzung für eine funktionierende Wirtschaft ist.

Unabhängig von der Globalisierungsproblematik haben wir eine Krise unserer sozialen Marktwirtschaft schon dadurch, daß bei einer circa 50-prozentigen Sozial- und Staatsquote die Marktwirtschaft schwer belastet und teilweise außer Kraft gesetzt worden ist. Die unsoziale Massenarbeitslosigkeit ramponiert das Ansehen des Sozialstaats und überfordert auf Dauer seine finanziellen Möglichkeiten. Sie ist jedoch vorrangig auf einen Mangel an Markt zurückzuführen. Hier würde ein Mehr an Arbeitsmarkt auch zu einem Mehr an Moral (im Sinne von mehr Beschäftigung) führen können.

Dieses Beispiel zeigt, daß zwischen Markt und Moral nicht notwendig Konflikte auftreten müssen. Es hängt vom jeweiligen Verständnis ab, wie die Begriffe Markt und Moral definiert und auf verschiedenen Ebenen einander zugeordnet werden. Zum Markt: Setzt sein Begriff in Wirklichkeit nicht bereits moralische Normen und Verhaltensweisen der personal verstandenen Individuen voraus? Neben der moralischen Eigenverantwortlichkeit der Wirtschaftssubjekte sind es vor allem die moralisch-rechtlichen Normen des Privateigentums, der Vertragsfreiheit, der Leistungs- und Tauschgerechtigkeit, die die Marktwirtschaft begründen und kennzeichnen. Auch das Konkurrenzprinzip wirkt sich moralisch günstig auf die allgemeine Wohlfahrtssteigerung und Armutsüberwindung aus, indem es zur Leistung anregt und die Konsumenten bevorzugt.

Moralische Zielnormen bedürfen der institutionellen Stützung durch eine staatlich-rechtliche Rahmenordnung, welche die Handlungsbedingungen durch ökonomische Anreize (und rechtliche Verbote) so gestaltet, daß solidarisches, gemeinwohlorientiertes Handeln erleichtert und Trittbrettfahren erschwert wird. Christliche Sozialethik als Institutionenethik zielt darauf ab, daß der moralisch Handelnde nicht "der Dumme" sein darf, auf dem die Sorge um die ökologisch und sozial nachhaltige Entwicklung lastet. Wenn die Moralkosten auf wenige einzelne abgeschoben werden, während alle anderen bloß den Nutzen haben wollen, wird die Moral zur Zumutung, der man sich auf Dauer zu entziehen sucht. Die Erreichbarkeit moralisch wünschenswerter Ziele bedarf der ökonomischen Überprüfung nach Effizienzgesichtspunkten, nach dem Kosten-Nutzen-Kalkül. Überdies stehen viele moralische Werte in Konkurrenz zueinander und sind auf eine Güter- oder Übelabwägung angewiesen.

Markt und Moral der künftigen Zivilgesellschaft können freilich nicht auf die individualmoralischen Tugenden und Initiativen ihrer Bürger verzichten, von deren Qualität die Institutionen leben. Das Beispiel der um sich greifenden Korruption zeigt, daß pflichtvergessene Individuen um ihres kurzfristigen Vorteils willen bereit sind, gegen die Regeln des Anstands wie auch der Marktordnung zu verstoßen - und dabei in Kauf nehmen, daß diese Ordnung nachhaltig gestört wird. Hier zeigt sich, daß die Institutionen des Marktes so gut sind wie die Moral ihrer Subjekte. Diese Moral verbraucht sich sehr schnell, wenn sie lediglich auf einem idealen Altruismus beruht. Um aber aus eigenem Interesse moralisch wirksam zu handeln, brauchen wir Institutionen, die das Handeln aller Beteiligten zu ihrem langfristigen Nutzen sinnvoll koordinieren.

In der gesteigerten Wertschätzung persönlicher Freiheit liegt nicht bloß die Gefahr von Beliebigkeit und Willkür. Die Chance einer sinnvollen Nutzung der Freiheit ergibt sich aus der Bindung an die elementaren Werte der Wahrheit (bzw. Wahrhaftigkeit), der Gerechtigkeit und der Solidarität. Diese Wertmaßstäbe finden sich in den geschichtlichen Erfahrungen eines Volkes, einer Kultur, aber auch und vor allem in den religiösen Traditionen und Glaubensgemeinschaften. Sie spiegeln sich auch im unverfälschten Gewissen eines jeden Menschen, der spätestens dann, wenn er sich selber als Opfer böser Machenschaften erfährt, zu ahnen beginnt, was eigentlich für alle positiv gelten sollte. Wer die Existenz universaler moralischer Werte anerkennt, wird das Ethische nicht mit dem Ästhetischen, mit Interesse oder Macht verwechseln.

Sollten Willkür und Rücksichtslosigkeit zunehmen, besteht die Gefahr, das sich die staatliche Politik herausgefordert sieht, den Mangel an persönlich gelebter Moral durch weitere Verrechtlichung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens zu kompensieren. Der rechtliche Zwang führt aber zur Einengung persönlicher Freiheits- und Verantwortungsspielräume. Wenn mangelnde Moral durch zwingendes Recht ersetzt wird, leidet die Freiheit, die eine wesentliche Grundlage des moralischen Handelns bildet. Um so notwendiger ist eine freiheitliche Werteerziehung durch Familien und Kirchen, Schulen und den bisher oft verantwortungslosen Medien.

Zentraler Leitgedanke einer christlichen Gesellschaftslehre ist, daß der Mensch als Träger, Schöpfer und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen anzuerkennen ist.

Der einzigartige Wert, die Würde der menschlichen Person liegt darin begründet, daß sie Geschöpf und Ebenbild eines unendlich kreativen Gottes ist und den göttlichen Auftrag zu erfüllen hat, Natur und Gesellschaft eigenverantwortlich zu gestalten. Darauf beruht die "Subjektivität der Gesellschaft". Eine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung ist nur dann menschlich, wenn sie die Würde und Verantwortung der menschlichen Person in den Mittelpunkt stellt.

Eigenverantwortlicher Unternehmungsgeist und Kreativität der einzelnen Bürger werden jedoch durch eine erdrückende Vielzahl von staatlichen Einrichtungen und Vorschriften gelähmt. An die Stelle schöpferischer Eigeninitiative treten Passivität, Abhängigkeit und Unterwerfung unter den bürokratischen Apparat. Die Fähigkeit hat nachgelassen, nicht sofort nach staatlicher Regulierung und Subvention zu rufen. Werden wir im Wohlfahrtsstaat versorgt bis zur Entmündigung? Die unterschwellige Tendenz, die Verantwortung "nach oben" abzuschieben, muß auch negative Konsequenzen für den Bestand der Demokratie haben, die auf Mitwirkung aller angewiesen ist.

Gegenwärtig bahnen sich in Regierung, Parteien und Verbänden neue Programmdiskussionen und politische Willensbildungsprozesse an. Im Mittelpunkt des Interesses steht die notwendig gewordene neue Zuordnung von (globaler und nationaler) Marktwirtschaft einerseits - und eines sozial gerechten Ausgleichs andererseits. Das ist die ordnungspolitisch und sozialethisch zentrale Frage.

Das Soziale ist hier nicht bloß ein soziologisch-empirischer Begriff, sondern vor allem ein Wertbegriff, der nicht allein aus der Perspektive parteipolitischer Macht oder ökonomischer Interessen inhaltlich gefüllt werden kann. Als unentbehrlich, umstritten und ideologieanfällig erweist sich vor allem der Begriff der sozialen Gerechtigkeit im Zusammenhang mit der notwendigen Reform der Sozialpolitik. Notwendig ist hier eine begriffliche Klärung. Denn der manipulative Vorwurf der "sozialen Kälte", der "Gerechtigkeitslücke" und des "Neoliberalismus" ist allzu rasch bei der Hand. Auch in den Kirchen und den C-Parteien herrscht programmatische Unklarheit darüber, wie die Soziale Marktwirtschaft der Zukunft prinzipiell zu begründen sei.

Die christliche Tradition hat immer an die klassische Definition angeknüpft, wonach Gerechtigkeit zunächst als Tugend gilt, jedem das Seine zu geben (suum cuique), aber nicht das gleiche. Und zwar nach der Regel der Proportionalität: Gleiches ist gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln. Gerechtigkeit und Gleichheit können sich also widersprechen. Die entscheidende Frage ist: Worin sind die Menschen gleich? Gleich sind sie in ihrer Würde, auch in ihren Grundrechten. Sonst kennt die Natur überwiegend Ungleichheiten, etwa in der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft. Konkrete Gleichheit kann nur künstlich und mit Gewalt hergestellt werden. Daran sind alle entsprechenden Ideologien und Utopien gescheitert. Deshalb bleibt es sinnvoll, mit Aristoteles und Thomas von Aquin zunächst mit der Leistungs- und Tauschgerechtigkeit zu beginnen. Sie regelt die freien Austauschverhältnisse auf dem Markt: Leistung für Gegenleistung. Zugleich setzt sie jedoch die Leistungsfähigkeit aller Teilnehmer voraus. Was ist aber mit denen, die noch nichts, nicht genug oder nichts mehr leisten können und infolgedessen nichts zu tauschen haben? Hier kommt die Verteilungsgerechtigkeit ins Spiel, welche auch den Leistungsschwachen eine angemessene Teilhabe an den Gütern ermöglicht.

Freilich wird dabei oft das Gerechtigkeitsproblem übersehen, in das der demokratische Sozialstaat hineingerät, wenn er zu seiner eigenen Legitimitätsabsicherung lediglich auf den Druck von Mehrheiten oder mitglieder- und lautstarken Gruppen reagiert, die sich eine Begünstigung von ihm erwarten.

Hier zeigt sich bereits, daß mit sozialer Gerechtigkeit nicht bloß ein tugendhaftes Verhalten einzelner, sondern ein bestimmtes gesellschaftliches Verhältnis, eine Struktur der Gerechtigkeit angesprochen ist. In ihr wird die Gemeinschaftsverpflichtung, die aus der Sozialnatur des Menschen folgt, besonders auf die Leistungsschwachen bezogen . In ihr sollen schließlich die gesellschaftlichen Gruppen, ihre Rechte und auch Pflichten sinnvoll einander zugeordnet werden.

Was aber den einzelnen und ihren Gruppen inhaltlich-materiell zukommen soll, unterliegt einem situationsabhängigen Ermessensurteil. So ist der Staat überfordert, Lohngerechtigkeit konkret festzulegen. Ob aber das freiheitliche Verfahren des tarifautonomen Aushandelns der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen "sozial gerecht" ist, hängt von der Gestaltung des Tarifvertragssystems und des Arbeitskampfrechtes ab. Mit guten Gründen läßt sich bezweifeln, ob dieses System "gerecht" ist, wenn man es mit folgenden Fragen konfrontiert: Wer verhandelt - nur ein Produzentenkartell (Gewerkschaften und Arbeitgeber)? Und auf wessen Kosten einigt man sich - auf Kosten der Arbeitslosen, der Konsumenten, der Kapitalgeber? Für welchen Geltungsbereich wird verhandelt - zentralistisch, undifferenziert, ohne Rücksicht auf einzelne Betriebe?

Was ist also "sozial gerecht"? Das Sozialgerechte einer Ordnung kann nur allgemein definiert werden, und zwar durch die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Chancen, unter denen die Wahrnehmung bestimmter Rechte und Pflichten ermöglicht oder erleichtert wird. Schwierigkeiten ergeben sich vor allem in der Zuordnung der Rechte mit den entsprechenden Pflichten. Denn wer will schon gerne Pflichten erfüllen, wenn er sie auf andere abschieben kann? Auf spätere Generationen etwa, die vielleicht gar nicht mehr bei uns geboren werden?

Bei der Frage, wer denn eigentlich die Pflicht hat, soziale Sicherheit herbeizuführen, fällt vielen Zeitgenossen spontan zunächst der Staat ein, jener mythologische Vater Staat, der den Mangel an eigener Initiative zu kompensieren hat. Daß es auch einmal erforderlich sein kann, daß der Staat etwas unterläßt, ist ein vor allem in Deutschland ziemlich ungewöhnlicher Gedanke, der aber dem Gedanken der Subsidiarität entspricht. Demnach soll sich der Sozialstaat streng auf die nachweislich Hilfsbedürftigen konzentrieren und sich überall dort zurückziehen, wo es den Bürgern zuzumuten ist, für sich selber zu sorgen. Das heißt: Soziale Gerechtigkeit muß nach dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe neu buchstabiert werden. Damit der Sozialstaat nicht seine eigenen Kinder frißt.

Roberto Marcello Baldessa, "Trikolore-Spirale über Rom" (Ölgemälde 1923): Der nationale Zusammenschluß geschieht auch immer im Interesse der Sozialschwachen

 

Wolfgang Ockenfels ist Dominikanerpater und Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Theologischen Fakultät der Universität Trier.


 
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