© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/03 02. Mai 2003

 
Keiner will echte Reformen
von Roland Baader

Wie sein "großer Bruder", der Sozialismus, so ist auch der "kleinere" Sproß der kollektivistischen Familie, der Sozial- und Wohlfahrtsstaat, eine Utopie. Deshalb steuert er mit derselben Gewißheit in den Bankrott. Nur eben langsamer, weil die im Sozial- und Umverteilungsstaat zwar gefesselten, aber eingeschränkt noch wirksamen Kräfte des Marktes dem Wohlstandszerfall lange Zeit entgegenwirken. Der Wohlfahrtsstaat dient keineswegs den Armen und Bedürftigen. Es ist längst gesichertes Wissen der Nationalökonomie, daß dieser "weiche Sozialismus" immense Wachstumspotentiale der betreffenden Volkswirtschaften verhindert und deshalb (und noch aus anderen Gründen) die Zahl der Bedürftigen nicht kleiner, sondern um ein Vielfaches größer macht. In Wahrheit dient er ganz anderen Zwecken: Er hat sich als hochwirksames Herrschaftsinstrument erwiesen.

Totalitäre Regime stützen ihre Herrschaft auf Gewehre und Panzer, auf Geheimpolizei und Spitzel, Gulags und Arbeitslager, Folter und Karriereausschluß, sowie auf psychiatrische Anstalten und Zuchthäuser für Dissidenten. Solche Werkzeuge der Macht stehen in freiheitlichen Demokratien nicht zur Verfügung (obwohl auch Demokratien durchaus totalitäre Züge annehmen können). Was der politischen Kaste in nicht-totalitären Systemen als Herrschaftsinstrumentarium verbleibt, das sind Geschenke und Versprechungen (Umverteilung zu Zwecken des Stimmenkaufs), das Schaffen einer relativ großen Zahl an Bedürftigen und Abhängigen - und eine entsprechend große Fiskal- und Schuldenmasse, um die entmündigte und enteignete Klientel "durchzufüttern" und stets bei Laune zu halten.

Dieser Mechanismus stellt eine Art perpetuum mobile dar, denn je mehr Mittel den Bürgern zwangsweise an Steuern und Abgaben (mit dem Argument der notwendigen staatlichen Fürsorge) entzogen werden, desto unselbständiger und bedürftiger werden sie - und desto mehr wächst ihre Abhängigkeit von kollektiven Leistungen und Staatsalmosen aller Art. Der schleichende Sozialismus des Sozial- und Umverteilungsstaates erweist sich somit als hochwirksames Herrschaftsinstrument. (Natürlich bleibt dabei die einzig legitime Herrschaftsform einer freien Gesellschaft, nämlich die Herrschaft des Rechts - Rechtsstaat im wahren Sinn des Wortes - zunehmend auf der Strecke. Wer den einen unter Zwang nimmt, um die anderen zu beschenken - das heißt politisch zu bestechen, verletzt das Grundprinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Gleichheit aller vor dem Recht).

Kann es bei dieser Art der "sanften Knechtschaft", bei der das entmündigte Volk alle paar Jahre seine Fronherren wählen darf, irgendwann zum Aufstand der Knechte kommen? Nein, jedenfalls nicht aus Gründen des Freiheitsdranges. Seit dem antiken Herrschaftstrick des panem et circenses haben sich die Menschen dieser Art der Hörigkeit noch nie widersetzt. Und doch erreicht das schäbige Spiel irgendwann sein (vorläufiges) Ende: Dann nämlich, wenn die Kräfte der Volkswirtschaft so weit geschwächt und ausgepreßt sind, daß es zum "Umsprung" kommt, indem die Zahl der Leistungswilligen und das Maß der Leistungsfähigkeit stärker abnimmt oder langsamer wächst als die Zahl der Abhängigen und das Maß der Bedürftigkeit zunimmt. Die "Zugochsen", die bislang den Karren bergan gezogen haben und dabei immer langsamer wurden, weil man ihnen zugleich immer mehr Futter entzogen und immer mehr Lasten aufgebürdet hat, kommen zum Stillstand - und beide, Ochsen und Karren, rutschen rückwärts den Abhang hinab.

Jetzt schlägt die Stunde der "Reformer". Was dringlich zu reformieren wäre - und wie, ist dabei längst bekannt. Seit Jahrzehnten füllen sich ganze Bibliotheken mit Schriften kompetenter Gesellschaftswissenschaftler, in denen akribisch aufgeführt ist, wie der Augiasstall der politisch zuschanden gerichteten Volkswirtschaft ausgemistet werden müßte. Aber das Ende des Schenkens - oder gar die Rücknahme der milden Gaben der Vergangenheit: das wäre tödlich für die politische Macht, das wäre der GAU für die Herrschafts- und Funktionärskasten.

Wenn nicht nur das Kind ruft "Der Kaiser ist nackt", sondern wenn der Kaiser auch selber zugeben würde: "Jawohl, ich bin nackt und habe euch schon lange etwas vorgegaukelt", dann könnte er mitsamt seinen Hofschranzen einpacken. Der Popanz vom Wohlfahrts-Schlaraffia wäre zuende.

Für die politische Realität bedeutet das: Wirklich umfassende und einschneidende Reformen werden nicht stattfinden, jedenfalls nicht in Richtung "freie Bürger auf freien Märkten". Vor dem Hintergrund der leeren Kassen und des drohenden Staatsbankrotts wird man zwar eine quirlige Geschäftigkeit entwickeln und so manches Unkraut auf der Oberfläche jäten, aber die Wurzeln des Unheils bleiben im Boden. Eine Mini-Reparatur und verklausulierte Scheinreform wird die andere jagen, neue Schlagworte und Schwindeletiketts werden erfunden, vielleicht sogar der eine oder andere politische Zampano oder gar die ganze Regierung ausgetauscht, aber wirklich ändern wird sich wenig.

"Zeit gewinnen" heißt die Hauptparole. Und der "Volkswille" kommt den Flickschustern insofern entgegen, als die große Mehrheit der Bürger zwar Reformen wünscht und fordert, aber nicht den Übergang vom falschen (Kollektiv-) System zur privaten Vertragsordnung. Reformen in einem falschen System jedoch machen das Falsche anders falsch - aber nicht richtig.

Sogar wenn eine neue Lichtgestalt am politischen Horizont auftauchen würde, und sogar wenn sich eine der Phrasendrescher-Parteien dazu entschließen würde, Klartext zu reden und auch entsprechend zu handeln: Sie hätten keine Überlebenschance. Denn das Volk schreit zwar nach Reformen, will sie aber nicht wirklich, jedenfalls nicht in der notwendigen radikalen Form ("radikal" kommt von lateinisch "radix", de Wurzel). Zu sehr hat der jahrzehntelange Fiskalkleptokratismus die materielle Souveränität der Menschen zerstört, zu lange hat die "soziale" Gehirnwäsche den Willen der Bürger zu Eigenverantwortung, persönlicher Unabhängigkeit und Eigenvorsorge gebrochen, und zu tief sitzt der von den Betreibern des Wohlfahrtsstaates verbreitete Aberglaube, sie seien dazu berufen und in der Lage, die "kalten" ökonomischen Gesetze aus "sozialen" Gründen auszuhebeln oder zu "verbessern". Zu lange hat die Voodoo-Ökonomie der Gesellschaftsklempner und Makro-Steuerer (scheinbar) funktioniert, weil sie die astronomischen Kosten und Verwerfungen ihres unheilvollen Tuns nicht nur mit konfiskatorischen Steuern und Abgaben finanzieren konnten, sondern dazu auch noch mit unsichtbaren Enteignungen und schleichenden Vermögensvernichtungen wie Staatsverschuldung, Inflation, kalter Progression und dergleichen mehr.

Die entscheidenden Reformen: die Befreiung der Bürger aus erdrückender Vormundschaft, lähmender Bürokratie und kräftezehrender Abzockerei, das Wegreißen der riesigen Filzdecke aus Korporativismus (Verbände- und Gewerkschaftsunwesen), Funktionärsallmacht und Staatsdominanz über alle Lebensbereiche der Menschen (Arbeit, Bildung, Gesundheit, Rente etc.) werden also nicht erfolgen. Allenfalls wird hier und dort ein Zipfel der Decke gelüftet werden, unter welcher die persönliche Freiheit und der Reichtumsmotor der Marktwirtschaft sukzessive ersticken.

Ist das eine zu pessimistische Sicht? Spätestens an dieser Stelle kommt aus der Ecke der Berufsoptimisten der Einwand: "Aber mit Maggie Thatcher ist doch damals im wohlfahrtsstaatlich verarmten und am Boden liegenden England der entscheidende Befreiungsschlag gelungen. Es kommt eben doch auf eine charismatische politische Persönlichkeit an und auf deren eisernen Willen, den Karren aus dem Dreck zu ziehen." Zugegeben: Die "eiserne Lady" hat tatsächlich die schlimmsten Fesseln der englischen Volkswirtschaft aufgeknackt und den Leistungskräften des Marktes wieder Luft zum Atmen verschafft. Die Engländer - inklusive der damaligen Reformgegner (Labour) - ernten noch heute unter Tony Blair die Früchte dieser "Revolution". (Man vergesse aber nicht, daß es genau dieser Erfolg war, der Margaret Thatcher die Karriere und ihre Partei letztlich die Macht gekostet hat).

Doch entscheidend war und ist etwas anderes: Keine politische Figur kann gegen den deutlich überwiegenden Mehrheitswillen des Volkes einschneidende Reformen in Richtung Freiheit der Menschen und Märkte dauerhaft durchsetzen - auch eine "eiserne Lady" nicht. Maggie Thatcher hatte jedoch die für eine solche "Wende" notwendige Minderheit von etwa einem Viertel der Bevölkerung hinter sich - vor allem einen erklecklichen Teil der meinungsbildenden Intellektuellen. Für ein politisches Kraftpaket reicht ein solcher "Rückenwind" aus, um - wenigstens eine Zeitlang - durchzuhalten und gegen den Strom der Mehrheit zu schwimmen.

Wie war die besagte, für die Thatchersche Radikalkur maßgebliche Minderheit zustande gekommen? Wie ist der damaligen Premierministerin das schier Unmögliche gelungen, nämlich einen Teil der schreibenden und redenden Zunft in den Medien hinter sich zu scharen, eine hinreichende Zahl der Intellektuellen also, die überwiegend dem linken politischen Spektrum zuzuordnen sind? Die herausragende Ursache hierfür lag in der angelsächsischen Besonderheit sogenannter marktwirtschaftlicher think tanks (Denkfabriken). Wie in den USA, so sind auch in England in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einige Dutzend dieser Institute entstanden. Im Vereinigten Königreich ist besonders das - auf Anregung des späteren Nobelpreisträgers (Ökonomie) Friedrich A. von Hayek gegründete - Institute of Economic Affairs (IEA, gegründet 1955) in London zu nennen.

Das IEA ist vollständig unabhängig von staatlichen oder parteinahen Institutionen und rein privat organisiert und finanziert (hauptsächlich über Spenden, daneben aber auch über Buchverkäufe und Zeitschriften-Abonnements). Die erheblichen Budgets des Instituts werden seit Jahrzehnten für eine umfassende Aufklärung und Meinungsbildungsarbeit zugunsten der marktwirtschaftlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verwendet. Die Zahl der herausgegebenen Schriften umfaßt an die tausend verschiedene Titel, und die Fülle der in englischen Zeitungen und Zeitschriften publizierten Artikel ist kaum noch zu zählen. Die damit in der britischen Medienlandschaft entfachte und über Jahrzehnte geschürte Grundsatzdebatte hat das Meinungsklima auf der Insel deutlich beeinflußt und den mit dem Namen Thatcher verbundenen Paradigmenwechsel in der britischen Politik überhaupt erst möglich gemacht. Ein besonders wichtiger Effekt ist in der Tatsache zu sehen, daß die Intellektuellen in den Medien, die in den seltensten Fällen über solide ökonomische Kenntnisse verfügen, mit den grundlegenden Gesetzen der politischen Ökonomie vertraut gemacht wurden.

Seine große Bedeutung gewinnt dieser Aspekt aufgrund der Tatsache, daß die veröffentlichte Meinung die öffentliche Meinung prägt.

Seit 1974 hat das IEA bei der Gründung von hundert gleichartigen oder ähnlichen Instituten in über 70 Ländern der Erde mitgewirkt. Deutschland findet sich nicht in dieser Länderliste. Das deutsche (Gemeinnützigkeits-) Steuerrecht macht eine den angelsächsischen think tanks vergleichbare Mittelausstattung, Effizienz und Breitenwirkung unmöglich. Die hierzulande sich mühenden (wenigen und kleinen) unabhängigen und privat finanzierten Institute - wie z.B. das Frankfurter Institut / Stiftung Marktwirtschaft, die Friedrich-A.-von-Hayek-Gesellschaft oder das Institut für Unternehmerische Freiheit , werden deshalb - bei noch so brillanter Arbeit der mitwirkenden Wissenschaftler - keine vergleichbaren Erfolge erzielen können.

Außerdem verhindert das Fehlen großer Privatuniversitäten in Deutschland die Heranbildung einer entschieden marktwirtschaftlich geprägten Elite. Nur wenige Ökonomen - und noch weniger Soziologen, Politologen, Verwaltungs- und Finanzwissenschaftler wagen es hierzulande, die (öffentliche) Hand zu beißen, welche sie füttert.

So bleibt insbesondere - trotz miserabelster Ergebnisse - das der Politik willfährige Theoriegebäude von Lord Keynes die Königsdoktrin der Wirtschaftswissenschaft. Noch immer wird - auch und besonders hierzulande - an den volkswirtschaftlichen Fakultäten eine Studentengeneration nach der anderen mit dem Unsinn einer nachfrage- und staatsausgabengestützten Theorie der Beschäftigung, des Wachstums und der Konjunktur gefüttert, welche der politischen Kaste die scheinwissenschaftliche Legitimationsgrundlage für ihre zerstörerische Geld- und Fiskalpolitik liefert. Auch die eindrücklichste Realsatire auf die keynesianische Märchen-Ökonomie, nämlich das seit 13 Jahren in Stagnation verharrende und in einem Schuldenmeer ertrinkende Japan, kann dem Spuk kein Ende bereiten. Und mit dem amerikanischen Notenbank-Chef Alan Greenspan sind auch die meisten Ökonomen der Überzeugung, die letzten 20 Jahre hätten gezeigt, daß - so Greenspan - "eine kluge Geldpolitik, über längere Zeit durchgehalten, die Kräfte der Inflation im Zaum halten kann." Dabei hat die von ihm erzeugte heiße Luft von fünftausend Milliarden Dollar - das waren 600 Prozent mehr als der Sozialproduktzuwachs derselben Periode - die größte asset inflation (Inflations- und Spekulationsblase an den Aktien- und Immobilienmärkten) der Weltgeschichte erzeugt - und somit als unausweichliche Folge auch die größte Kapitalvernichtung (in absoluten Zahlen) aller Zeiten im anschließenden weltweiten Börsencrash. (Noch weit schlimmere Folgen werden in den nächsten Jahren über die westliche Welt hereinbrechen)

Fazit: Erst wenn eine bedeutsame Minderheit der Bevölkerung und der Medien-Intellektuellen mit den grundlegenden Prinzipien einer freien Marktwirtschaft vertraut ist, und erst wenn eine größere Zahl von Ökonomen den Mut findet, die Lehren von Keynes auf den Abfallhaufen des pseudowissenschaftlichen Mülls zu kehren, können sich politische Figuren von Gewicht an die Herkulesaufgabe wagen, die wirklich an die faulen Wurzeln gehenden Reformen durchzusetzen: die Befreiung der Arbeitsmärkte (auch vom Tarifkartell und vom Machtmonopol der Gewerkschaften), die Privatisierung des Renten-, Bildungs- und Gesundheitswesens, das radikale Zurückschneiden des Steuer und Abgabendickichts und die Beendigung der staatlichen Geldschöpfungs-Willkür. (Auch sogenannte unabhängige Zentralbanken betreiben letztlich das politische Geschäft der fast beliebigen Liquiditätserzeugung. Man darf eben den Hund nicht zum Hüter des Wurstpakets machen).

Doch zuerst müssen, wie gesagt, die aufklärerischen Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Wer dem politischen Elend und dem von der Partei- und Funktionärspolitik verursachten wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands wirksam entgegentreten will, muß dort ansetzen, wo Aufklärung ihren Ursprung hat: 1) an der Befreiung privater und unabhängiger "Denkfabriken" von ihren steuerrechtlichen Knebelungen (repressives Stiftungs- und Spendenrecht), und 2) an der Privatisierung des Bildungswesens - zumindest der Universitäten. Alle anderen "Reformen" bleiben nur Erholungspausen auf dem Weg in den Abgrund.

 

Roland Baader ist Diplom-Volkswirt und Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien von ihm "Totgedacht. Warum Intellektuelle unsere Welt zerstören", Resch Verlag, Gräfelfing 2002 .


 
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