© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/03 25. April 2003

 
Das Benzin geht so schnell nicht aus
Energiemarkt: Die weltweiten Erdöl- und Gasreserven sind größer als bislang angenommen / GUS gewinnen an Bedeutung
Klaus-Jürgen Goldmann

Erdöl und Erdgas - das sind Kohlenwasserstoffgemische, die eigentlich überall zu finden sind - allerdings meist in kaum meßbaren Mengen. Aus tierischen und/oder pflanzlichen Kleinstlebewesen über Jahrmillionen in sedimentären, wasserbedeckten Ablagerungsräumen gebildet, konnten sie sich durch geologische Vorgänge in bestimmten, tektonisch verformten Erdschichten ansammeln - und die seit dem vergangenen Jahrhundert heiß umkämpften Lagerstätten bilden.

Bislang war die Ansicht weit verbreitet, daß Erdöl noch 40 Jahre, Erdgas noch 100 Jahre und Kohle wohl noch 500 Jahre zur Verfügung stehen würden. Auch beim jüngsten anglo-amerikanischen Angriff auf den Irak wurde der Kriegsgrund "Kampf ums Öl" häufig genannt - denn hier allein würden die größten Erdölreserven lagern. Doch die weltweiten Öl- und Gasvorkommen sind reichhaltiger als allgemein angenommen.

Die Gründe dafür sind mannigfaltig: Ein erhöhtes Sparbewußtsein im Verbrauch mit diesen Rohstoffen im Verbund mit dem Einsatz moderner, energiesparender Motoren, Energie- und Heizsysteme sowie eine effizientere Raffinierung des Rohöls hat manche Prognose hinfällig werden lassen. Hinzu kommt ein von ehemals 35 Prozent auf nunmehr über 50 Prozent gestiegener "Entölungsgrad" einer Lagerstätte durch die Anwendung schräger und horizontaler Bohrtechniken sowie thermischer und chemischer Fördermethoden. Der Aufschluß von Vorkommen in Wasserbereichen bis zu tausend Meter (etwa das Nordseeöl) und vor allem das Aufspüren tieferer und kleinerer Erdölfallen durch die Anwendung von Großrechnern bei der verfeinerten Auswertung seismischer, geophysikalischer Erkundungsmethoden führten dazu, daß die festgestellten, bekannten Erdöl- und Gasreserven Jahr für Jahr erheblich nach oben revidiert wurden. Der Verbrauch stieg hingegen nur moderat an - zwischen 1979 und 1984 sank er sogar um 1,4 Millionen Tonnen pro Tag.

War vor Jahren von zehn Explorationsbohrungen nur eine erfolgreich, so ist das Verhältnis heute 2:1. In der Nordsee reduzierte sich das Verhältnis von 7:1 im Jahr 1974 auf nunmehr 1:1 - das allerdings bei teilweise erhöhten Bohrkosten. Es ist nicht selten, daß diese Bohrkosten in unwirtlichen Gegenden wie im Nordatlantik oder im Europäischen Nordmeer zehn Millionen Euro pro Bohrung betragen können. Dies sind vergleichsweise geringe Summen - denn dabei sind die vor Aufnahme der Bohrkampagne angefallenen seismisch-geophysikalischen Vorkosten sowie die im Erfolgsfalle hohen Investitionskosten für die Förderanlagen, Öl- und Gasleitungen in Höhe von einigen Milliarden Euro noch nicht eingerechnet.

Doch der erzielte Öl- und Gaspreis deckt die Kosten. Und je teurer das Erdöl oder Erdgas auf dem Markt wird, desto eher sind die Energiekonzerne bereit, das Aufschlußrisiko einer schwierigen Öl- oder Gasfalle einzugehen. Vor dem Hintergrund eines hohen Erdöl- und Gaspreises können daher bis dato unrentable Vorkommen oder vermutete Vorkommen explodiert und/oder entwickelt werden.

Sollten eines Tages der Rohölpreis und die Gewinnmarge hoch genug sein, könnte ebenfalls die Gewinnung der besonders in Venezuela und Kanada überaus reichlich vorhandenen Ölschiefer und Teersande, das sind Kohlenwasserstoffe, die fest an Schiefer oder Sande gebunden sind, in Angriff genommen werden, obwohl hier der Abbau die Umwelt durch Schwermetalle belasten würde.

Zusätzlich sind in den letzten Jahren riesige Vorkommen von gefrorenen Methanhydraten in den Eisgebieten der Nordmeere festgestellt worden, die möglicherweise einmal einer wirtschaftlichen Gewinnung zugeführt werden können - wieder unter der Voraussetzung, daß der Preis hoch genug ist und der Erlös das eingesetzte Risikokapital bedienen kann.

Im Zusammenspiel mit diesen Faktoren errechneten sich 1997 konventionelle, förderbare und sichere Reserven von 138,5 Milliarden Tonnen Erdöl und 143 Billionen Kubikmeter Gas. Dabei sind die wahrscheinliche und mögliche Reserve sowie zusätzliche Potentiale noch nicht einmal eingerechnet, da diese unsicher sind und einer weiteren geologisch-geophysikalischen Überprüfung und Bewertung sowie Bestätigung durch Bohrergebnisse bedürfen. Diesen Zahlen stand ebenfalls 1997 ein Verbrauch von weltweit etwa 4,1 Milliarden Tonnen Öl pro Jahr gegenüber. Der Öl-Verbrauch und neue, zusätzliche Öl-Reserven entwickeln sich derzeit im Verhältnis 100:115, wobei der Bedarf - schwankend - im Schnitt um etwa ein Prozent pro Jahr, bis zum Jahr 2020 auf dann etwa 5,6 Milliarden Tonnen Öl pro Jahr ansteigen dürfte. Unsicherheiten in diesen Zahlen, die je nach Quelle schwanken, sind demographische, wirtschaftliche und politische Entwicklungen in den Milliarden-Staaten China und Indien sowie den Entwicklungsländern. So könnte beispielsweise eine starke Motorisierung in China oder Bürgerkriege und Unruhen dieses Zahlenwerk verändern.

Von den noch unentdeckten Potentialen - also nicht die Reserven, denn diese sind nachgewiesen bzw. entdeckt - sollen nach Projektionen sorgfältig kalkulierter geologischer Schätzungen etwa 33 Prozent auf Rußland entfallen, 29 Prozent auf den Nahen Osten und Nordafrika, etwa acht Prozent auf den pazifischen Raum und sieben Prozent auf Europa. Auf das Gebiet des Kaspischen Meeres, also vornehmlich Kasachstan, Turkmenistan und Aserbaidschan sowie Randgebiete Rußlands, entfällt ein Potential von 20 bis 22 Milliarden Tonnen Erdöl, was etwas dem Doppelten der festgestellten Reserven der Nordsee entsprechen würde. Aus dieser Gesamtschau implizieren sich folgende wirtschaftliche und vor allem geopolitische, strategische Konsequenzen:

- Die Abhängigkeit der Weltwirtschaft vom Erdöl aus "Krisenregionen" wird insgesamt reduziert werden.

- Die Macht der 1960 in Bagdad gegründeten Organisation Erdölexportierender Staaten (OPEC) wird nachlassen.

- Die Bedeutung Rußlands und einiger GUS-Staaten wird steigen.

Deutschland sollte daher frühzeitig Weichen stellen. Denn die heimische Ölförderung ist aus mangelnder Rentabilität - mit Ausnahme eines im Meer liegenden Feldes - nahezu eingestellt. Nur 3,7 Millionen Tonnen sprudelten 2002 aus heimischen Quellen. Daher importierte Deutschland im vergangenen Jahr 104,6 Millionen Tonnen Rohöl: 37,8 Millionen Tonnen kamen aus den GUS-Staaten, 22,3 Millionen aus Norwegen, 11,6 Millionen aus Großbritannien und 8,8 Millionen aus Libyen. Der OPEC-Ölanteil (Algerien, Indonesien, Irak, Iran, Katar, Kuwait, Libyen, Nigeria, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate und Venezuela) liegt inzwischen nur noch bei zusammen 20,6 Millionen Tonnen.

Die zukünftigen Explorations- und Förderaktivitäten werden sich in immer stärkerem Maße eindeutig auf Rußland und den Raum des Kaspischen Meeres konzentrieren, was eine realistische Geopolitik voraussehen sollte - und wohl voraussieht, denn sonst wären dort wohl nicht die vielen politischen, aber auch kriegerischen Ereignisse und Unruhen erklärbar. In diesem Zusammenhang sind auch die Interessen der USA im Irak zu erwähnen. Aber wohl nicht in dem Sinn, daß die US-Amerikaner physischen Zugriff auf das dortige Erdöl haben wollen - sie könnten das Öl preiswerter auf dem Weltmarkt käuflich erwerben.

Den USA liegt wohl mehr daran, daß sie (auch über eine ihnen hörige OPEC) erheblichen direkten Einfluß auf die Preisgestaltung des Erdöls nehmen können und damit indirekt die wirtschaftliche Entwicklung, besonders Chinas, aber auch Rußlands, steuern und somit kontrollieren können.


 
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