© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/03 25. April 2003

 
Reformiert bis zur Grundgesetzwidrigkeit
Bundeswehr: Durch neue Einschränkungen bei Einberufungen wird die Wehrgerechtigkeit weiter ausgehöhlt und damit die Wehrpflicht immer mehr zur Disposition gestellt
Christian Roth

Die Wehrpflicht wackelt, aber sie fällt (noch) nicht. Die Neuregelungen zur Einberufung von Wehrpflichtigen in Deutschland haben bei Parteien und Verbänden Proteste wegen der angeblich mangelnden Gerechtigkeit hervorgerufen. Wer älter ist als 23 Jahre, verheiratet oder sich in der Ausbildung befindet, wird vom 1. Juli an nicht mehr zum Wehrdienst herangezogen. Auch junge Männer mit Fachschulreife sollen nach Studienbeginn künftig außen vor bleiben, kündigte Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) an. Nach Schätzungen des Verteidigungsministeriums werden durch die Herabsetzung des Höchstalters einmalig etwa 70.000 junge Männer durch das Raster fallen. Die Nichtheranziehung der Tauglichkeitsstufe 3 betrifft jährlich etwa 20.000 Wehrpflichtige. Mehr als 120.000 junge Männer haben im Jahr 2002 ihren Wehrdienst angetreten.

"Wehrdienst à la carte", nannte dies der CSU-Wehrexperte Hans Raidel. Nach Meinung des Vorsitzenden des wehr- und sicherheitspolitischen Arbeitskreises der CSU führen die Änderungen der Einberufungskriterien zu einem Gefühl der Ungerechtigkeit. Die jungen Männer bekämen immer stärker den Eindruck, Rot-Grün ändere die Einberufungskriterien willkürlich und ohne verteidigungspolitischen Sachverstand. Die Bundeswehr benötige eine intelligente Weiterentwicklung des Wehrpflichtkonzeptes und Entscheidungen in der Finanz- und Personalpolitik des Heeres.

Die Liberalen unterstrichen ihre Haltung, wonach die Wehrpflicht komplett abgeschafft werden müsse. Wo neuerdings mehr als die Hälfte aller jungen Männer eines Jahrgangs nicht mehr einberufen werde, findet die FDP-Bundestagsabgeordnete Ina Lenke, sei Wehrgerechtigkeit eine Farce. "Mit der Herausnahme von Gemusterten der dritten Eignungsstufe müssen künftig 35 Prozent eines Jahrganges aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr zum Bund. Gäbe es Wehrgerechtigkeit, könnte die Bundeswehr nicht auf einen Schlag auf derart viele Wehrpflichtige verzichten. Dann wären ganze Divisionen ohne Personal", ereifert sich Ralf Siemens, der Sprecher der in Berlin ansässigen Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär.

Auch eine weitere Verkürzung des Wehrdienstes von derzeit neun auf sechs Monate wurde angedacht. Der frühere Inspekteur des Heeres, Helmut Willmann, stieß mit dieser Idee auf den Widerstand von Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan. Der bezeichnete diesen Vorstoß als wenig praktikabel: "Das hätte dann auch Auswirkungen auf dem Zivildienst."

Bei den Sozial- und Wohlfahrtsverbänden macht sich aufgrund der neuerlichen Diskussion Nervosität breit. Das Ende der Wehrpflicht würde auch das Aus für den Zivildienst bedeuten. "Und das hätte gerade im Pflegebereich katastrophale Folgen", glaubt der stellvertretende Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, Winfried Nachtwei. Der kleine Koalitionspartner hat sich zwar die Forderung nach einer freiwilligen Armee auf die Fahnen geschrieben, doch die Argumente für die Wehrpflicht wiegen derzeit schwerer. Immer noch wird die Rekrutierung als ideale Möglichkeit zur Nachwuchsgewinnung gesehen.

So rücken jedes Jahr 400.000 Jugendliche in die Wehrpflicht nach. Für sie gibt es aber nur 53.000 Dienstposten. So kommt es, daß viele Wehrpflichtige nach jahrelangem Schweigen des Kreiswehrersatzamtes plötzlich einberufen werden. Daher gleichen Strucks Reformpläne einem Befreiungsschlag. Experten gehen sogar davon aus, daß bei extremen Konstellationen künftig nur noch jeder Vierte eines Jahrgangs dienen muß. "Die Wehrgerechtigkeit ist somit nicht mehr gegeben. Die Wehrpflicht ist damit grundgesetzwidrig. Ein Auslaufmodell", glaubt Wehrpflicht-Gegner Ralf Siemens.


 
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