© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/03 18. April 2003


Ohne Glauben geht es nicht
von Ulrich Beer

Um das Gesicht einer Gesellschaft oder einer Epoche kennen zulernen, muß man nach den herrschenden Tabus fragen. In unserer Zeit ist alles, was mit Glaube, Gott und Religion zu tun hat, zum Tabu geworden, über das man ungern spricht und das man am liebsten nicht berührt.

Um so heftiger und hektischer wird um die Götzen getanzt. Wer den großen Atem Gottes fürchtet, ist der Kurzatmigkeit der Götzenkulte ausgesetzt. An die Stelle der "Ewigungen" treten - wie Jacob Burckhardt einmal gesagt hat - die "Zeitungen". Wenn wir unter Ewigung ein vom Glauben ausgefülltes, auf Gott ausgerichtetes Leben verstehen, bedeutet Zeitung die Kurzlebigkeit, die Auslieferung an den Alltag und seine vergänglichen Glücke, Süchte und Ekstasen. Auch sie können eine gleichsam religiöse Bedeutung erlangen: Die neuen Götzen, die goldenen Kälber, die vielen Formen des Aberglaubens - Goethe hat sie schon treffend als bloße Ersatzkulte definiert: "Glaube, dem die Tür versagt, kommt als Aberglaub' durchs Fenster. Wenn die Götter ihr verjagt, kommen die Gespenster."

In Krisen oder tiefreichenden Existenzproblemen begreifen Menschen dies offenbar leichter. "Not lehrt beten", sagt schon der Volksmund. Und in der Tat sind Wohlstandszeiten meist gottvergessene und selbstbesessene Zeiten, in denen auch die menschlichen Gemeinschaften sich auflösen und häufiger zerbrechen. Dennoch kann man den Glauben nicht einfach wie ein naturheilkundliches Rezept verordnen, obwohl er viele persönliche und soziale Probleme leichter und besser lösen ließe: Wenn der Mensch sich auf eine höhere Instanz bezieht, nimmt er sich selbst und seine Probleme nicht so wichtig, ist er auch eher bereit, sich mit anderen, auch dem Gegner und Feind, gemeinsam einem höheren Gesetz unterzuordnen, was die Voraussetzung für eine Lösung der meisten und scheinbar unlösbarer Konflikte darstellt. Ist er selbst aber seine oberste Instanz und der Mittelpunkt der Welt, verbiegt er sich, verkrümmt sich zum Reflektor seiner persönlichen Wünsche und Ansprüche. Luther nennt ihn "incurvatus in se", eingekrümmt in sich, ist der Mensch arm und allein.

Was der Mensch ist, wird er durch Glauben. Dieser Tatsache kommt eine so grundlegende Bedeutung zu, daß man ohne sie den Menschen gar nicht bestimmen kann. Alle anderen Definitionen, mit denen man sonst versucht, die Besonderheit des Menschen in der Natur zu umreißen, treffen zwar zu, aber reichen nicht aus: Merkmale wie der aufrechte Gang, die Beweglichkeit der Hände, die Ausprägung des Großhirns, die Denkfähigkeit, die Sprache, das Vermögen, Kultur zu schaffen und der Natur gegenüberzustellen - dies alles ist richtig. Aber fundamentaler und allem anderen vorangehend und zugrundeliegend ist die Tatsache, daß der Mensch das Wesen ist, das glaubt - das nicht etwas glauben kann, sondern das gar nicht anders kann als glauben.

Sicher hat der Mensch der Tierwelt, aus der er hervorgegangen ist, eine Vielzahl von Fähigkeiten und Funktionen voraus. Sie alle aber verblassen und werden mehr oder minder funktionslos ohne die sie auffangende und sammelnde Kraft des Glaubens, die die Voraussetzung seines Selbst- und Weltverständnisses ist. Ohne sie hätte er nie den Absprung aus dem Reich der Abhängigkeit der Natur in das Reich der Freiheit gewagt, hätte er sich nicht vom Boden erheben und sein Haupt gen Himmel recken, den Blick nach vorn richten und die Hand ans Werk der Kultur und damit der Veränderung und Erneuerung der Wirklichkeit legen können. Der Grundantrieb und die Ursprungsenergie hierzu ist der Glaube - jener Zentralimpuls, der allerdings viele Fächerungen und Facetten hat.

So verstanden ist Glaube die elementare Zuversicht, daß Gutes in uns, um uns und über uns waltet, um dessentwillen es sich lohnt, morgens aufzustehen, etwas Sinnvolles zu beginnen, sich mit Menschen zu verbinden, das Leben zu lieben und voll Hoffnung in die Zukunft zu schauen.

Glaube ist auch die Energie, die allem Phantasieren und Planen, allem Wollen und Vollbringen, allem Harren und Hoffen zugrunde liegt, ja auch allem Lieben und Vertrauen, denn lieben können wir nur, woran wir glauben, und was uns gut und wertvoll erscheint.

Mit der Enttäuschung und der Verzweiflung, mit dem Verlust von Achtung, Vertrauen und Glauben geht der heute so verbreitete Liebesverlust einher - nicht etwa umgekehrt. Auch dies ist sicherer Hinweis darauf, daß die Glaubenskraft der Liebesenergie vorausgeht und zugrunde liegt.

Glaube hat zwei Dimensionen: eine von rückwärts her und eine nach vorn gerichtet. Zum einen ist Glaube ein Lebensgefühl, eine Grundstimmung, ein Urvertrauen: Ich gehe davon aus, daß ich geliebt werde, gut bin, Zukunft habe. Die Dimension nach vorn umfaßt den Glauben an etwas: ein Ziel, einen Gott, einen Menschen, ein Vorhaben. Beides zusammen ist wichtig: Das Getragensein und das Gezogenwerden. In der einfachsten Form ist es die Methode Coué: Es geht mir gut, ich werde täglich besser usw. Mit positiven Grundeinstellungen - anders gesagt: mit einem kräftigen Glauben - kommt man weiter im Leben.

Auch die ersten kulturellen Zeugnisse der Menschheit sind im weitesten Sinne religiöser Natur: Jagdzauber und Totenkult, Geisterbeschwörung und Naturverehrung, Heilkunst und Tempelbau. Und spätere Archäologen werden Zeugnisse der gegenwärtigen Kultur und Zivilisation, falls sie übrigbleiben - Atommeiler und Autobahnen, Flugzeuglandepisten und Raketenabschußbasen, Sendetürme und Weltraumshuttles, Sportstadien und Hochhäuser - nicht nur als Produkte technischer Zweckmäßigkeit, sondern zutreffend auch als Dokumente quasireligiöser Kulte, als Zeugnisse von Massenfurcht und Massengläubigkeit deuten.

So gesehen ist der hier entworfene Begirff des Glaubens allerdings umfassend. Er umfaßt alles, was den Menschen über sich hinaustreibt. Bei dem Wort Religion denken die meisten an jene Äußerungsformen und Veräußerlichungen des Glaubens, die sich als die großen Religionsgemeinschaften organisiert haben. Wir vergessen meist, daß diese Form religiöser Organisation geschichtlich gesehen relativ neu ist. Sie ist keineswegs die einzige Form, in der sich die tief in seiner Natur wurzelnde Glaubenssehnsucht des Menschen ausdrückt.

Solange der Glaube im Menschen stark und ursprünglich ist, bedarf er im Grunde der äußeren Verfassung in Stein und Staat nicht. Erst wenn dieser Glaube schwindet und schwächer wird, werden formulierte Dogmen, organisierte Bürokratien und Hierarchien, sowie petrifizierte Versammlungs- und Demonstrationsorte unvermeidlich. So tritt auch im Leben des modernen Menschen der religiöse Ritus nicht als Ausdruck seines Glaubens aus seinem Inneren heraus, sondern oft geradezu an seine Stelle: Er kann Messen lesen lassen, mit seinen Steuermitteln Behindertenheime, Kindergärten und Missionen betreiben, Kirchen errichten und Gottesdienste abhalten lassen, an denen er gar nicht oder allenfalls zu Weihnachten teilnehmen muß, ohne daß dies seine nominelle Religionszugehörigkeit gefährdet. Die organisierten Religionen sind weitgehend Stellvertretungs- und damit Glaubensersatzreligionen. Zugespitzt könnte man sogar sagen: Würden alle Mitglieder einer Kirche deren Angebote in Anspruch nehmen wollen, wären diese räumlich und personell total überfordert: Die Kirchen würden gesprengt, und die Pleite wäre voraussehbar. Die Kirchen leben sozusagen von ihrer überwiegenden Nichtbeanspruchung.

Natürlich kann man das Ganze auch anders sehen: Der in der modernen Massengesellschaft verunsicherte Glaube des einzelnen drängt nach kollektiver Einheit, nach Trutzburgen in Form fester Formen und Formulierungen, Ritualen und Regularien. So bleibt er greifbar, findet er Halt und sichert seine Erhaltung durch die Jahrhunderte. Da der Glaube selbst nicht ausstirbt, sondern selbst den erstarrten Systemen auf geheimnisvolle Weise - "der Geist weht, wo er will" - immer wieder zufließt, bleiben sie erstaunlich lange am Leben und dürfen darum auch als die sichtbarsten Manifestationen angesehen werden - wenn auch keineswegs als die einzigen oder allein möglichen. Unter ihnen sollten sich die drei großen monotheistischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, durch ihren gemeinsamen Glauben an einen gemeinsamen Gott besonders verbunden fühlen oder zumindest kompromißbereit sein. Gerade ihr Miteinander, das eher konfliktiv als kooperativ ist, macht bis in die jüngste Gegenwart hinein die sackgassenartige Ausweglosigkeit der Situation deutlich. Wer einmal in Jerusalem, diesem allen drei Religionen heiligsten Ort dieser Erde war, kann es dort schmerzhaft spüren, wie starr und feindselig sie sich gegenüberstehen, auch wenn sie fast Haut an Haut jede ihren Kult praktizieren, mit denen sie den Touristenströmen aus aller Welt ein Schauspiel bieten und deren Gelder sie sich teilen (beziehungsweise um sie streiten). Hier schreien die Steine zum Himmel und werden - seit zweitausend Jahren wechselweise sich schichtend - zu den Zeugen gemeinsamer Tradition: den einzig sichtbaren allerdings. So der riesige Stein im Felsendom, auf dem Gottes Gebot zufolge Abraham seinen Sohn Isaak zum Opfer darbrachte und von dem ein paar Jahrhunderte später das Pferd abstieß, auf dem Mohammed zum Himmel aufgefahren sein soll. Glaube vermag die Spuren beider Ereignisse noch zu erkennen: Wenn Gott es will, können die Steine reden und sogar stärker gemeinsames Zeugnis ablegen als die Menschen, die doch vom Glauben an den einen Gott erfüllt und verschwistert sein sollten.

An dieser Stelle ist es notwendig, darüber nachzudenken, wie es kommt, daß ursprüngliche Religion sich zu "Religionen" formiert, um nicht zu sagen deformiert hat. Welches sind ursprüngliche religiöse Bedürfnisse und welche weiteren werden durch die vergegenständlichten Religionen erfüllt?

Ursprüngliche religiöse Bedürfnisse, und damit wohl die Hauptgründe elementaren Glaubens sind: Ehrfurcht, Hingabe, Dank, Angstbefreiung, Grenzüberschreitung, Vereinigung, Sinndeutung, Selbstüberhöhung, Seelenfriede, Verewigung. Dazu kommen bei den Realreligionen noch ganz andersartige Bedürfnisse: Corpsgeist und Fremdgruppenabgrenzung, Sündenopfer und Sühne, Ersatzkulthandlungen und Selbstdarstellung, politische Repräsentanz und Herrschaftsanspruch, Sicherheitsbedürfnis und Tradition.

Zu diesen sekundären wären noch sozusagen tertiäre hinzuzufügen, die Kirchen als irdische Instrumente ebenfalls erfüllen: Zeremonie- und Feiergestaltung, Kulturanbieter und Erziehungsinstitut, Geschäftsverband und Karrierevehikel. Insofern ist die Kirche eine unter anderen gesellschaftlichen Gruppen, nur eben der Religion geweiht und darum tabuierter und unangefochtener, zeit- und grenzenloser. Auch in dem irdenen Gefäß bleibt aber wohl ein überirdischer Rest, der jederzeit zum Kern werden kann.

In der Erfüllung der sekundären und tertiären Bedürfnisse pervertieren die Religionen sich oft selbst und - was das Schlimme ist - sie rechtfertigen nahezu jeden Mißbrauch, weil sie sich auf ein hohes Maß von Verehrung und kritiklosen Glaubens verlassen können.

Wir finden in ihnen die Mißstände - Machtmißbrauch, Amtsanmaßung, Korruption, Lügen und Intrigen - wie in jedem weltlichen Apparat, nur besser kaschiert, weil weniger erwartet und doppelt schlimm, weil im Widerspruch zum eigenen Wesen und Auftrag, ja, schlimmer noch, weil der Mißbrauch sich noch zu steigern vermag durch religiösen Eifer, gnadenlosen Fanatismus, missionarische Besessenheit, die in anderen Institutionen kaum denkbar sind - selbst in autoritären Staaten nicht, soweit diese nicht totalitäre Züge annehmen und dadurch selbst mit der Tendenz psychischen Machtanspruchs auf allen Gebieten den Charakter von Theokratien, also Ersatzreligionen annehmen. In ihnen durchdringen sich Untertanenangst und Gläubigenverehrung in einer penetranten und für jeden wirklich gläubigen Menschen unerträglich schmerzhaften Weise.

Dennoch beweisen sie nur das schier unerschöpfliche Reservoir an Glaubenssehnsucht, das den Menschen bis in die Gegenwart erfüllt und sicher in Zukunft erfüllen wird.

Ja, wir stellen so etwas wie eine neue Religiosität fest, die sich unter den Verkrustungen allenthalben zu rühren beginnt. Und man fühlt sich an das Wort des Dichters Franz Grillparzer erinnert, der einmal gesagt hat: "Religiosität ist die Weingärung des sich bildenden Geistes oder die faulende Gärung des zerfallenden Geistes."

Was sich heute unter Sekten und Kulten aller Art in eschatologischem und esoterischem Gewande, in Autoritäten oder phantastischen Strukturen auftut, ist jedenfalls nicht der Glaube, der allein retten kann.

Fast entsteht der Eindruck, als ob die fiebrig gärende Vielfalt der inzwischen allein auf deutschem Boden Pilzen gleich aus dem Boden geschossenen sechshundert Sekten und Gruppen, die das Weltende erwarten, an der Jahrtausendwende aus einer tiefen Furcht vor dem neuen Äon und der eigenen Ohnmacht ohne wirkliche Glaubenszuversicht entsprungen ist. Aber wie heißt es bei Goethe in "Wilhelm Meisters Wanderjahren": "Keine Religion, die auf Furcht gegründet ist, wird bei uns geachtet" - vielmehr stellt er ihr eine Religion der Ehrfurcht entgegen. Furcht entfremde den Menschen, verbiege sein Selbstsein. "Die Ehrfurcht lässt ihm seine Ehre, er ist nicht mit sich selbst veruneint", wie im Falle der Furcht.

Fast scheint es, als ob in der Gegenwart an die Stelle eines Kultur und Gesellschaft bestimmenden und erfüllenden Glaubens, der Mut macht und motiviert, eine Unkultur der Verzagtheit und der Furcht getreten ist. Nicht nur der Krieg, der seit Monaten die Menschen und die Wirtschaft lähmt, zeugt davon. Auch die individuellen Ängste um den Arbeitsplatz, die Sorge um die Gesundheit und vor einem ungesicherten Alter, um den Bestand der Familie und die Zukunft der Kinder sind Symptome dieser sich rapide weiterfressenden Krankheit, die eine Gesellschaft auf die Dauer nicht ohne nachhaltige und schwere Folgen verkraften kann.

Was jetzt Not tut, ist wahrlich ein "Ruck", wie ihn der frühere Bundespräsident Roman Herzog gefordert hat, und zwar vor allem ein Ruck in Richtung Mut und Zuversicht - dazu, daß auch in Zukunft ein menschenwürdiges Leben in diesem Lande möglich ist, und daß es sich lohnt.

Sind die ersten Schritte dazu veränderte sozialpolitische Fakten, oder ist es eine neue Grundeinstellung zum Leben und zur Zukunft, also ein fester und nicht so leicht aus den Fugen zu hebender Glaube, der alles Nötige auch für möglich hält? Es steht wohl fest, daß dies der erste Schritt sein muß, dem alle weiteren folgen müssen.

Benedetta (Cappa in Marinetti), "Gipfel, von Einsamkeit ausgedörrt" (Ölgemälde 1936): Unverkennbar erinnert das Bild an eine Kirche - aber sie schwebt, der Zugang ist nicht mehr möglich

 

Ulrich Beer, Jahrgang 1932, ist promovierter Psychologe und Psychotherapeut. Einem breiten Publikum bekannt wurde er als sachverständiger Berater der langjährigen Fernsehsendung "Ehen vor Gericht".


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