© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/03 11. April 2003

 
Argumentation mit der Brechstange
Auch die neue Wehrmachtsausstellung präsentiert im Dienste der Denunziation grobe wissenschaftliche Fehler / Zweiter Teil
Stefan Scheil

In der alten Wehrmachtsausstellung sollte bekanntlich der Eindruck erweckt werden, viele oder beinahe alle deutschen Soldaten hätten in der Sowjetunion Verbrechen begangen. Soweit das für einzelne von ihnen nicht zutreffen sollte, bot Ausstellungsleiter Hannes Heer dafür 1998 im vom Hamburger Institut für Sozialforschung herausgegebenen Buch "Krieg ist ein Gesellschaftszustand" eine simple Erklärung an: "Es gab gegen Ende des Krieges keine Juden mehr, Gefangene wurden kaum noch gemacht." Nach dieser Logik Hannes Heers war somit der "eine oder andere" Soldat lediglich mangels Gelegenheit kein Verbrecher oder Mitwisser von Verbrechen geworden.

Diese skurrile Unterstellung ist in der neuen Ausstellung weniger präsent. Sie bringt ein anderes Thema auf. Denn sollte die Führungsspitze der Wehrmacht geschlossen verbrecherische Absichten verfolgt haben, so könnte dies den erwiesenen, aber aus Sicht des Ausstellungskonzepts hinderlichen "Mangel" an verbrecherischen Soldaten ausgleichen und möglicherweise eine Anklage gegen die Wehrmacht als Institution rechtfertigen. Also wird eingangs im Ausstellungskatalog gleich behauptet: "Die Wehrmachtsspitze stimmte Hitlers Kriegszielen grundsätzlich zu." Diese Behauptung ist eine der Schlüsselstellen der neuen Ausstellung. Sie wird in verschiedenen Abwandlungen zu jedem Themenkreis mehrfach wiederholt, sie ist das Bindeglied der ohne diese Prämisse oft zusammenhanglos erscheinenden Fallbeispiele.

Dreiviertel der Mitglieder der Kommission blieben gleich

Wer sich je mit Sozialforschung befaßt hat, der weiß über die Flüchtigkeit von Zustimmungen Bescheid und auch über die Schwierigkeit, sie schlüssig nachzuweisen. Dies ist für die Wehrmachtsführung bisher nicht geschehen. Leider macht auch die Ausstellung des Leiters eines "Instituts für Sozialforschung" diesen Versuch nicht. Es bleibt bei der bloßen Behauptung. Illustriert wird sie durch einige im nationalsozialistischen Vokabular gehaltene Tagesbefehle einzelner Oberbefehlshaber, wie sie teilweise auf ausdrücklichen Wunsch Hitlers erlassen wurden. Als Muster hatte er dafür einen Tagesbefehl Generalfeldmarschall Reichenaus vorgegeben. Ergänzt wird die Zusammenstellung der Ausstellung durch Vorwürfe wegen des angeblich zu geringen Widerspruchs führender Militärs gegen den "Kommissarbefehl" und den "Kriegsgerichtsbarkeitserlaß". Zusammengenommen ist das nicht einmal der Versuch, die These einer allgemeinen Billigung verbrecherischer Kriegsziele durch diese Personengruppe adäquat zu stützen. Die Ausstellung ist weit davon entfernt, jenen Mangel abzustellen, den Johannes Hürter in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte just im Jahr 2000 beklagte, als sie gerade konzipiert wurde: "Zwar werden immer wieder die berüchtigten Befehle eines Reichenau oder Manstein und manches anderen herangezogen, doch weiß man über diese Generäle und ihre Mentalität wenig oder nichts."

Für die Beurteilung der Ausstellung noch wichtiger: So weit man etwas weiß, spricht es gegen ihre These. Vielleicht ist eine genauere Dokumentation der Mentalität deutscher Offiziere in der Ausstellung daher auch deswegen unterlassen worden, weil das Hamburger Institut selbst von der durch Jan Philipp Reemtsma eingesetzten Historikerkommission bereits schriftlich den Bescheid bekommen hat, daß seine Behauptung nicht zutrifft. Diese Kommission stand der Ausstellung an sich durchaus wohlwollend gegenüber, schon aus eigenem Interesse, wie Bogdan Musial in der FAZ am 1. Dezember 2001 vermerkte: "Sechs von acht Kommissionsmitgliedern (waren) bei der alten Ausstellung nicht nur emotional, sondern auch organisatorisch involviert. Sie bürgten mit ihrer eigenen wissenschaftlichen Autorität für deren Seriosität. Daher waren sie durchaus interessiert, das Ausmaß der Verstöße gegen die Wissenschaftlichkeit herunterzuspielen, und das taten sie auch."

Dennoch, auch diese Kommission stellte fest, Zustimmung zu nationalsozialistischen Methoden und Zielen sei innerhalb des Offizierskorps die Ausnahme gewesen: "Reichenau und einige andere Armeeführer repräsentieren nicht die Gesamtheit, ebenso nicht einige radikale Kommandeure von Sicherungsdivisionen, -bataillonen und Kommandanten von Orts- und Feldkommandanturen."

Ausnahmen werden einfach zur Regel erklärt

Diese Bemerkung hat die neue Ausstellung nicht daran hindern können, die Ausnahme zur Regel zu erklären. Sie stellt sich gegen den wissenschaftlichen Sachverstand, nicht zuletzt auch gegen klare Aussagen der von ihnen selbst empfohlenen Fachliteratur. Erwähnt sei aus dieser Literatur noch Professor Gerd Ueberschär, der Pauschalurteile wie das der Ausstellung in seinem Forschungs- und Literaturbericht über den Rußlandfeldzug ausdrücklich ablehnt. Er schreibt: "Wie weit die Unterstützung der Mordaktionen durch Wehrmachtseinheiten im einzelnen ging, läßt sich allerdings ebenso schwer konstatieren wie eine generelle Aussage über die Bereitschaft zur Beteiligung 'der' Wehrmacht bei der 'Arbeit' der Einsatzgruppen."

Aber es ist nicht nur eine Einschätzung historischer Forschung wie diese, die dem Besucher der Ausstellung verschwiegen und ins Gegenteil verkehrt wird. Es gibt zudem gutinformierte Zeitzeugen, die diese These stets zurückgewiesen haben: Die NS-Führung und Adolf Hitler persönlich wußten zu jedem Zeitpunkt ihrer Regierungszeit, daß die Wehrmacht eben nicht das überzeugte Ausführungsorgan nationalsozialistischer Zielvorgaben war. Die Wehrmachtsführung kritisierte Hitlers Politik ebenso offen, wie sie diese versteckt sabotierte, weil sie den Griff zu militärischer Gewalt für Deutschland in jedem Fall für katastrophal hielt. Das war jener "Geist von Zossen", den Hitler "ausrotten" wollte, wie er im November 1939 sagte, nachdem er sich früher darüber empört hatte, es sei nicht richtig, daß seine Generäle nur an Frieden dächten. Er verspottete sie als Jagdhunde, die man zum Jagen tragen müsse. Er versuchte dieses Problem durch Gründung von Ersatzorganisationen wie der Waffen-SS zu lösen, dadurch, daß dem SD und den Polizeibataillonen die Ausführung von Gewalttaten überlassen wurde, durch Aufhebung der Militärverwaltung in den besetzten Gebieten, durch die personelle Austrocknung der Wehrmacht, die Bestechung ihrer höheren Offiziere und nicht zuletzt durch Terror.

Bald nach seinem Amtsantritt erschoß das NS-Regime im Sommer 1934 neben etlichen anderen auch den einzigen dezidiert "politischen" General Deutschlands, Kurt Schleicher, Hitlers Vorgänger als Reichskanzler. Schleicher konnte von der Militäropposition nie ersetzt werden, zumal andere mögliche Führungsfiguren wie Seeckt oder Hindenburg Mitte der dreißiger Jahre verstarben. Aber weiterhin agierten führende Militärs aktiv und während seiner ganzen Dauer gegen das NS-Regime. Ein Generalstabschef trat aus Protest gegen die nationalsozialistische Risikopolitik zurück, putschte am 20. Juli 1944 und büßte das mit dem Leben (Beck), ein weiterer zögerte mit dem Staatsstreich und landete am Ende "nur" im KZ (Halder). Seit 1942 traute Hitler niemandem aus diesem Kreis mehr - aus seiner Sicht nicht zu Unrecht - und übernahm die Armeeführung selbst, denn: "Die Aufgabe des Oberbefehlshabers des Heeres ist es, das Heer nationalsozialistisch zu erziehen. Ich kenne keinen General des Heeres, der diese Aufgabe in meinem Sinne erfüllen könnte."

Von diesem vernichtenden Urteil über die Identifikation der Heeresführung mit dem Nationalsozialismus überzeugt, übernahm er nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 dann sogar noch das sowjetische Modell und führte politische Kommissare zur Kontrolle in der Wehrmacht ein, "ein Zeichen zwar für das Streben nach totaler nationalsozialistischer Erziehung innerhalb der Wehrmacht, aber zugleich ein Indiz für den bis Kriegsende ausbleibenden Erfolg", wie Professor Jost Dülffer abschließend feststellte. Hitler wußte zudem durchaus, daß der in der Ausstellung als 'Verbrechen der Wehrmacht' präsentierte Kommissarbefehl kaum oder gar nicht ausgeführt worden war und daß auch der ebenfalls als verbrecherisch gekennzeichnete Kriegsgerichtsbarkeitserlaß vom Oberbefehlshaber des Heeres durch gegenläufige Ausführungsbestimmungen unterlaufen worden war: "Er wisse ja, daß man im Heer die gegebenen Befehle, wie zum Beispiel den Kommissarbefehl (...) gar nicht oder nur zögernd befolgt habe. Schuld daran trage das Oberkommando des Heeres, das 'aus dem Soldatenberuf möglichst einen Pastorenstand' machen wolle. Wenn er seine SS nicht hätte, was wäre dann noch alles unterblieben ... !" Das war Hitlers Ansicht über die "Billigung" der NS-Ziele durch die Wehrmacht. Über all das erfährt der Besucher der neuen Ausstellung nichts.

Von den Einzelfällen, die dort verkürzt oder unrichtig dargestellt werden, sei noch ein besonders gravierender erwähnt: der Vorwurf, die Wehrmacht hätte Millionen russischer Kriegsgefangener absichtlich verhungern lassen. Als Beleg werden unter anderem Ernährungstabellen gezeigt, aus denen sich das ergeben soll. Einmal mehr ist es jedoch eine willkürliche Einschätzung, die hier von der Ausstellung übernommen und transportiert wird. Zweitausend Kalorien waren für jeden Kriegsgefangenen pro Tag vorgesehen, für einen Menschen keine hohe, aber eine ausreichende Kalorienmenge. Ein Blick auf die Zeitumstände ergänzt diesen Befund anschaulich. Im ausgehungerten Europa von 1941 hatten nur Privilegierte eine Chance, diese Kalorienzuteilung zu überschreiten. Ein Vergleich mit den Kalorienmengen, wie sie durch die Alliierten in vergleichbaren Fällen ausgegeben wurden, macht die Haltlosigkeit der in der Ausstellung gezogenen Schlußfolgerungen vollends deutlich. Die Höhe der Verpflegungssätze im besetzten Nachkriegsdeutschland erreichte selbst nach mehreren Monaten Frieden teilweise nur 775 Kalorien, wohlgemerkt lange nach Ende der Kampfhandlungen und trotz der Möglichkeit, Nahrungsmittel aller Art aus dem außereuropäischen Ausland zu importieren. Beides war im Rußland des Jahres 1941 nicht gegeben. Im amerikanisch besetzten Teil Italiens des Jahres 1944 waren sogar nur 665 Kalorien ausgegeben worden. Somit gaben die Alliierten kaum ein Drittel jener Essenrationen aus, die in der Ausstellung für todbringend und den Ausdruck eines allgemeinen Hungerplans gehalten werden.

Keine Identität der Ziele von Wehrmacht und NS-Führung

Es ist daher vollkommen richtig, wenn Joachim Hoffmann bereits vor fast zwanzig Jahren die Festlegung der Kalorienmengen durch Generalquartiermeister Wagner als "absolut ausreichend" eingeschätzt hat und ebenfalls auf den Vergleich mit anderen Verpflegungssätzen wie etwa denen in Nachkriegsdeutschland hinwies. Der Ausstellungsleitung hätte diese klare und an sich einfach nachvollziehbare Argumentation ohne weiteres bekannt sein können. Darauf weist etwa auch Karl-Heinz Schmick in seinem Buch "Alter Wein in neuen Schläuchen? Eine erste Annäherung an die neue Wehrmachtsaustellung" (Ludwigsfelder Verlagshaus, Ludwigsfelde 2002, 261 Seiten, 19 Euro) hin, der schon zur ersten Ausstellung eine kritische Abhandlung geschrieben hatte und jetzt in einer auf zwei Bände angelegten Auseinandersetzung zu möglichst vielen Punkten der neuen Ausstellung Stellung nimmt, unter anderem zum Massensterben der Kriegsgefangenen.

Die von der neuen Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung behauptete Identität zwischen den Zielen, Methoden und Interessen der Wehrmacht und der NS-Führung hat es nicht gegeben. Das ist eine alte Erkenntnis, die von dem erneut gescheiterten Versuch, in einer Ausstellung das Gegenteil zu demonstrieren, nur noch einmal frisch bestätigt wird. Die Ausstellung liegt in zentralen Aussagen falsch, sie stellt zahlreiche Einzelfälle unzureichend oder unrichtig dar. Die Auseinandersetzung darüber steht sicher erst am Anfang.

Fotos: Sowjetische Kriegsgefangene im provisorischen Lager Uman, 1941: Vorwürfe des Massenmordes / Wehrmachtsausstellung in Berlin: Texte statt Fotos als Beweise


 
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