© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/03 04. April 2003


Die List der Geschichte
Geopolitik: Der Irak-Krieg wird für die Multipolarität der Welt weit weniger dramatische Folgen haben als derzeit befürchtet
Lothar Höbelt

Zur Gattung der Leute, die begierig auf Neues sind, zählen Journalisten schon aus professionellem Interesse, auch wenn sich dahinter ganz und gar keine katilinarischen Existenzen verbergen. Da muß dann zumindest einmal im Jahr von hier und jetzt an eine neue Ära der Weltgeschichte an- und ausbrechen. So auch mit dem 11. September und dem zweiten Golfkrieg. Doch für eine Kanonade von Valmy wird's bei beiden nicht reichen. Allenfalls mentalitätsgeschichtlich ist das Phänomen interessant, daß gerade die aufrechten Antiamerikaner regelmäßig als erste auf alle möglichen oder unmöglichen translatlantischen Hysterien hereinfallen.

Faktum ist, daß die Nato seit der Implosion der Sowjetunion vorübergehend funktionslos geworden ist. Das hat sie mit dem Zweibund zwischen Wien und Berlin vor hundert Jahren gemein: Solange es keine aktuelle Bedrohung aus dem Osten gibt, braucht man sie nicht. Allenfalls kann sie als Rückversicherungspolice in Mittelosteuropa (und da gehört Deutschland gerade noch dazu) als Placebo wirken.

Darüber hinaus haben die USA sich durch den Sieg im Kalten Krieg die Möglichkeit erworben, dem vorangegangenen Sieg im Britischen Erbfolgekrieg 1941-45 auch tatsächlich Gestalt zu verleihen: Wenn sie wollen, können sie ihr informelles Imperium über Teile des Erdballs sogar in formelle Herrschaft verwandeln. Hinter den Briten, die einmal über "the pink quarter of the globe" geboten, werden sie selbst dann freilich immer noch nachhinken. Die führten gleichzeitig den Zulu- und den Afghanistankrieg und besetzten nebenbei auch noch Zypern. Natürlich ist das Imperialismus - na und?

Rationale Außenpolitik ist zumeist Kabinettspolitik

Die Welt funktioniert auch im einundzwanzigsten Jahrhundert noch so wie im neunzehnten. Für Alt-Achtundsechziger mag da ein Traum vom zivilisatorischen Fortschritt zerplatzen oder aber sich ein willkommener Anlaß bieten zu erneuter Betroffenheit, Lichterketten und sonstiger Diskurswütigkeit. Aber für alle, die derlei Firlefanz stets mit der gebührenden Verachtung gestraft haben, wird es doch keine Überraschung sein, daß die Welt nicht so ist, wie sie gar nicht sein kann.

Für Konservative, die sich immer schon an Realpolitik gehalten haben, mag das ein Grund sein für intellektuelle Befriedigung, doch kaum zur Aufregung - allenfalls für einen gutgemeinten Rat unter Freunden an die amerikanischen Steuerzahler, ob sie sich das wirklich antun wollen. Imperien kosten nämlich in der Regel Geld, viel Geld - selbst wenn die Bodenschätze noch so verlockend wirken: Das romantische Südwestafrika war für den deutschen Staatshaushalt bis zuletzt ein Verlustposten, allen Diamanten zum Trotz. Und für moderne Varianten der aufsässigen Hereros fänden sich in allen Neo-Kolonialgebieten Kandidaten genug. (Noch grotesker ist da nur der Buschkrieg, den die USA gegen die Logik des Marktes in den Coca-Anbaugebieten der Anden führen läßt.)

Zweifellos: Wo so viel Geld fließt, läßt sich für einzelne auch gut verdienen, doch die Zahlungsbilanz leidet mit Sicherheit darunter. Sprich: Hätte ich den Eindruck, daß die USA im Zweistromland oder sonstwo in dieser überschätzten Region dauerhaft Fuß fassen wollten, so wäre das zwar kein Grund, ihnen die Freundschaft aufzukündigen, wohl aber Dollar eher abzustoßen.

Um eine Stärkung der USA, die nach einem Gegengewicht ruft, handelt es sich also mitnichten; eher schon um eine Schwächung, aber auch das wohl nicht in einem dramatischen Ausmaß. Zur Assistenzleistung braucht sich deshalb niemand aufgefordert zu fühlen. Wie der Zweibund, so ist auch die Nato eine Defensivallianz, keine Erwerbsgenossenschaft. Koloniale Abenteuer müssen separat abgerechnet werden. Deutschland hat in Ostafrika auch keine österreichisch-ungarischen Kontingente angefordert, bloß weil es gegen arabische Sklavenhändler in humanitäre Interventionen verstrickt war.

Freilich ist rationale Außenpolitik zumeist Kabinettspolitik - und Kabinettspolitik verträgt sich schlecht mit dem demokratischen Mitbestimmungsimperativ und noch schlechter mit den Nöten der Unterhaltungsindustrie. Die mediale Aufbereitung führt zwangsläufig zu Mißverständnissen: Bewunderung beruht meist auf Unkenntnis; die Halbbildung der TV-Impressionen hingegen hat eine endlose Kette von Irritationen im Gefolge. Um eine Politik gut zu verkaufen, muß man sie in den USA ganz anders präsentieren als in Europa. Auch diese Erkenntnis ist nicht so neu: Wilhelm II. wirkte gerade mit seinen populärsten Aussprüchen im Ausland mitunter ähnlich glücklich wie George W. Bush. Schließlich gibt es da wie dort Phasen im politischen Leben, wo die Wähler nun einmal am ehesten Vertrauen schöpfen, wenn Politiker den Eindruck zu erwecken vermögen, sie seien zu dumm, um sie hineinzulegen. Auch das ist Marketing.

Die Dynamik des Medienzeitalters bringt es aber vor allem mit sich, daß der Stellenwert der jeweils gerade aktuellen Aktion überschätzt wird. Der Nahe Osten ist nicht so wichtig, wie die Leute, die dort Verwandte haben oder auf der Gehaltsliste des American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) stehen, behaupten müssen. Die Multipolarität der Welt hängt nicht davon ab, ob der Irak, im Unterschied zum Iran ein verzichtbares Kunstprodukt der Versailler Verträge, überlebt oder ob er unter die beiden regionalen Ordnungsmächte Türkei und Persien aufgeteilt wird, was zweifellos die vernünftigste, wenn auch nicht die wahrscheinlichste Lösung wäre.

Der ostasiatische Raum wird an Bedeutung gewinnen

Die Multipolarität der Welt ergibt sich allein schon daraus, daß die USA zwar vermutlich augenblicklich ohne Rivalen dastehen, was Militärtechnologie betrifft, aber mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung im Bereich zwischen Lahore und Yokohama lebt, inklusive dreier Atommächte und der Wirtschaftsmächte Nummer zwei und drei. Das Schwergewicht der Welt verlagert sich zunehmend wiederum in diesen ostasiatischen Raum, so wie das auch vor 1.500 Jahren der Fall war - die Bezeichnung pazifischer Raum ist ein Euphemismus der Amerikaner, um sich da auch noch irgendwie hineinzureklamieren. Der afrikanisch-arabische Raum ist im Vergleich dazu eine vernachlässigenswerte Größe, wenn auch für Europa aufgrund der Einwanderungsproblematik von Bedeutung - wobei Algerien weit mehr Grund zur Besorgnis liefert als der Golf.

Europa kann und wird diesen Prozeß der Rückverlagerung in den Bereich der alten, wenn auch westlich überformten Hochkulturen des Fernen Ostens weder aufhalten noch beschleunigen. Die USA und Rußland mögen da irgendwann einmal gemeinsam gegen China Front machen wollen. Deutsche Interessen stehen dabei nicht auf dem Spiel.

Es war schon vor hundert Jahren ein Fehler, "Weltpolitik" und "Weltmachtstellung" nicht als militärisch-ökonomisches Potential zu begreifen, sondern als prominente Adabei-Rolle bei allen möglichen tropischen Verwicklungen. Bismarck hat diesen "morbus consularis" recht köstlich karikiert, wenn er sich über die Korallen in der Südsee ärgerte, die ihn schon viel zu viel Zeit gekostet hätten. Der Economist verfällt in denselben Fehler, wenn er China den Weltmachtstatus abspricht - bloß weil man sich in Peking klammheimlich ins Fäustchen lacht, wenn sich die Amerikaner im Wüstensand verausgaben.

Auch Rußland und Frankreich sind ihren eigenen kolonialen Abenteuern noch nicht ganz entwachsen. Zugegeben, sie erledigen derlei Geschichten vielfach eleganter als die USA und ohne lästiges ideologisches Brimborium. Doch Deutschland und Italien haben keinen Anlaß, die Ambitionen des einen oder des anderen zu befördern. Mehr noch: Die EU ist dafür noch viel weniger zuständig als die Nato.

Die EU - wenn sie diesen Zweck auch durch diverse großspurige Absichtserklärungen zu übertönen versucht - ist eine sehr nützliche Freihandelszone, die erkauft wird um den Preis eines großzügigen Subventionsprogramms für weltmarktgefährdete Branchen. Ihr die Verantwortung für den Nahen Osten aufzubürden hieße soviel wie die Sicherheitsagenden ans Landwirtschaftsministerium zu delegieren.

Ob ihre Mitglieder in ihren Sympathien für und wider Bush & Co. jetzt geteilter Meinung sind oder nicht, vermag ihr Funktionieren nicht zu beeinflussen. Der Irak-Konflikt fällt in ihr Ressort in erster Linie über seine Auswirkungen auf den Dieselpreis für Traktoren, sprich: die Weltkonjunktur im allgemeinen.

Vielleicht werden dadurch allerlei überflüssige Ambitionen zurechtgestutzt. Letzten Endes geht das ganze Gerede aus wie das Hornberger Schießen. Wenn's hochkommt, verzögert Frankreich den Beitritt der Kandidaten im Osten - ein Schelm, wer da nicht an die "Sicherheitsarchitektur" denkt, sondern ans Agrarbudget...

Frankreich mag ja sehr wohl Pläne wälzen, die EU via Verfassungsreform von allerhand Ballaststoffen zu befreien, die seiner Glorie im Wege stehen. Doch Deutschland wird nicht mitmachen, nicht aus Raffinement oder besserer Einsicht, sondern aus Trägheit. Es wird keine schlechte Entscheidung treffen, nicht weil sie schlecht wäre, sondern weil sie eine Entscheidung erfordern würde - eine List der Geschichte, die uns vielleicht sogar eine vorteilhafte Position einbringt, solange Schröder und Stoiber mit verteilten Rollen spielen.

Eine Erklärung verlangt bloß noch, warum alle EU-Kritiker plötzlich in Wehklagen ausbrechen, daß ihr ungeliebter Moloch Brüssel sich nicht zu herkulischen Anstrengungen aufraffen kann, um der vermeintlichen amerikanischen Hegemonie mannhaft entgegenzutreten. Dieser Irrtum scheint in einem kuriosen "ganzheitlichen" Verständnis von Politik begründet zu sein: Der Vorstellung, daß ein Kampf der Kulturen mit diplomatischen Mitteln geführt werden könne bis hin zu der Vorstellung, daß es sich bei Machtpolitik nicht um Interessen handelt, sondern tatsächlich um eine Exkursionsveranstaltung des Philosophieseminars, wo man der irritierenden US-Propagandawalze ein nicht minder pathetisches Programm gegenüberstellen muß: Natürlich ist es Unsinn, den Irak zu erobern, um ihn "demokratisieren" zu wollen; aber die Idee, daß "die Respektierung nationaler und kultureller Profile" ihre Verfechter gerade bei Franzosen und Russen findet, steht dem wenig nach - das räumt Günter Zehm ja zum Teil selbst ein (JF 14/03). Natürlich ist es Unsinn, daß es im Irak um Menschenrechte geht; aber ebenso absurd ist die Vorstellung, daß friedliche Strukturen durch das sogenannte Völkerrecht befördert werden, das als Staatenrecht allerlei pittoreske Gewaltherrschaften mit Sitzen im Sicherheitsrat prämiert.

Metapolitik nicht mit Bündnispolitik verwechseln

Wer - zu Recht oder zu Unrecht - die "Amerikanisierung" unserer Alltagskultur beklagt, darf seine "meta-politischen" Anliegen nicht mit bündnispolitischen Strategien verwechseln. Der Erfolg von McDonald's beruht nicht auf einem unfairen Wettbewerbsvorteil, den das Pentagon für die Firma herausgepreßt hat, sondern auf den durchgehenden Öffnungszeiten und dem Umstand, daß Halbwüchsige dort ohne offensichtlichen Konsumzwang stundenlang herumknutschen dürfen.

Und der Erfolg von Hollywood beruht nicht auf seiner rührenden "political correctness", sondern darauf, daß es ohne Skrupel kitschige Schnulzen herstellt, während kontinentale Filmemacher sich als sozialkritische Künstler sehen und am Publikum vorbeiproduzieren. Und daran wird sich so schnell nichts ändern.

 

Prof. Dr. Lothar Höbelt lehrt Neuere Geschichte an der Universität Wien. Sein Beitrag erscheint in einer JF-Reihe von Texten zur Neuordnung Europas und der transatlantischen Beziehungen. In der vorigen Woche schrieb Günter Zehm über die Achse Paris-Berlin-Moskau.


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