© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/03 14. März 2003

 
Integration ohne Konzept
Bildungspolitik: Die neueste Teilanalyse der Pisa-Studie beschreibt den belastenden Einfluß der Migration auf das deutsche Bildungssystem
Christian Roth

Bereits ein geringer Anteil von Ausländerkindern an deutschen Schulen hat einschneidende Folgen für das Bildungsniveau. Zu diesem schonungslosen Ergebnis kommt eine Teilanalyse der nationalen Pisa-Studie, die am vergangenen Donnerstag bei der Sitzung der Kultusministerkonferenz vom "Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin" vorgestellt wurde. Danach bewirkt schon ein Migrantenanteil von 20 Prozent eine "sprunghafte Reduktion der mittleren Leistungen". Im Vergleich zu Schulen mit weniger als fünf Prozent Ausländerkindern ergibt sich ein Unterschied von knapp 20 Punkten.

In der Analyse erreichen Schüler, deren Eltern beide im Ausland geboren wurden, einen deutlich geringeren Leistungsstandard als Schüler "ohne Migrationshintergrund". Die Studie kommt weiterhin zu der Schlußfolgerung, daß bereits bei einer quantitativ relativ moderaten ethnischen Durchmischung den Schulen der Umgang mit der Heterogenität Schwierigkeiten bereite. Überraschend sei jedoch, daß mit einem zustätzlichen Anstieg des Migrantenanteils auf 40 Prozent und mehr keine weitere Verringerung des mittleren Leistungsniveaus einhergehe. Auch die Herkunftsländer der Eltern der 15jährigen Teilnehmer spielten keine Rolle. Unterschiedlich waren die Ergebnisse nur in den Bundesländern: Bayern und Baden-Württemberg liegen über dem Bundesdurchschnitt, in Bremen und Schleswig-Holstein und teilweise im Saarland liegen diese deutlich darunter. Allerdings garantiert laut des Dossiers ein geringer Ausländeranteil nicht unbedingt auch ein besseres Abschneiden, wie die Beispiele im Saarland oder in Schleswig-Holstein zeigen würden. Als mögliche Erklärung wird ein verspätetes Einsetzen von Fördermaßnahmen vermutet: "Möglicherweise muß erst eine kritische Grenze erreicht werden, damit die Schulen mit gezielten Fördermaßnahmen beginnen." Dies erscheine um so einleuchtender, weil nach Erreichen dieser Grenze bei 20 Prozent die Leistungskurve nicht weiter nach unten ginge.

Der hohe Ausländeranteil verstärkt die Bildungsmisere

Eines der Ergebnisse von Pisa ist, daß Kinder und Jugendliche aus zugewanderten Familien deutlich geringere Bildungserfolge erzielen als Schüler mit deutscher Abstammung. In der Diskussion war deswegen bislang die Vermutung geäußert worden, dieser Hintergrund habe zum insgesamt schwachen Abschneiden Deutschlands geführt. Dieser These widerspricht die neueste Pisa-Analyse allerdings. Das Ergebnis Deutschlands im OECD-Vergleich sei zwar durch die Herausnahme der Schüler mit Migrationshintergrund etwas positiver. "Das Ergebnis ist nun nicht mehr signifikant niedriger als der OECD-Durchschnitt, sondern mit diesem fast gleich. Allerdings herrscht auch unter Berücksichtigung dieser Herausfilterung nach wie vor ein deutlicher Abstand zu den erfolgreichsten Staaten." Im Klartext bedeutet dies, daß der hohe Ausländeranteil gerade in Ballungsgebieten die bundesrepublikanische Bildungsmisere zwar akut verstärkt, aber nicht ihr Auslöser ist.

Die Veröffentlichung dieser Pisa-Ergänzung sorgte in den vergangenen Tagen für die üblichen hektischen Reaktionen. Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber erklärte, ausländische Kinder sollten nur noch dann in Regelklassen aufgenommen werden, wenn sie über ausreichende Deutschkenntnisse verfügten. Deutschlandweit müsse mehr für die Integration der hier lebenden Ausländer getan werden. Daß Bayern auch in diesem Punkt Vorreiter sei, zeige die Pisa-Studie eindeutig. Die neuesten Ergebnisse machten zudem deutlich, daß die Kommunen angesichts fehlender Ausländer-Integration keine Ausweitung der Zuwanderung mehr verkraften könnten, sagte Stoiber der Welt am Sonntag. Die fehlende Integration sei sozialer Sprengstoff. Sie verschlechtere die Berufs- und Lebenschancen auch der deutschen Kinder - vor allem aus dem sozial schwächeren Milieu in den Brennpunkten deutscher Großstädte, wo in den Schulklassen die ausländischen Kinder oft die Mehrheit ausmachten, so Stoiber.

Vor dem Hintergrund der neuen Erkenntnisse der nationalen Pisa-Teilanalyse hatte die Kultusministerkonferenz (KMK) am Donnerstagabend beschlossen, künftig die sozialen Lernziele stärker betonen zu wollen. "Erziehung und Bildung bedürfen der besonderen Aufmerksamkeit der Schulen und Bildungsbehörden", hieß es in einer Erklärung. Konkrete Umsetzungsvorschläge machte das Gremium allerdings nicht. Immerhin will die KMK dazu weitere Untersuchungen in Auftrag geben. Bundesbildungsministerin Edelgard Buhlmann (SPD) und die Präsidentin der Kultusministerkonferenz Karin Wolff (CDU) wiesen darauf hin, daß das Erlernen der deutschen Sprache bereits im Kindergarten erfolgen müsse. Wolff betonte darüber hinaus die Notwendigkeit der bundesweiten Einführung von Bildungsstandards, die für das Schuljahr 2004/2005 vorgesehen ist.

In den Bundesländern, in denen die Ergebnisse am schlechtesten waren, herrscht auf einmal hektische Betriebsamkeit. "Die Bremer Schullandschaft ist in der Einwanderungsgesellschaft noch nicht angekommen", meinte beispielsweise der örtliche Bürgerschaftsabgeordnete Dieter Mützelburg. Der Grünen-Parlamentarier war nach eigener Aussage entsetzt, daß die Schulen mit starkem Ausländeranteil in Bremen an letzter Stelle stehen. Als Konsequenz forderte er eine sehr frühe Untersuchung der Sprachfähigkeit bei den Kindern und eine für diesen Zweck verbesserte Ausstattung der Kindergärten.

Ins gleiche Horn stieß die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag von Nordrhein-Westfalen, Sylvia Löhrmann. Es sei interessant, daß Migrantenkinder nicht die Ursache schwacher Leistungen seien, sondern alleine entscheidend sei, ob und wann in welcher Intensität Fördermaßnahmen ergriffen würden. "Angesichts der unterschiedlichen regionalen Ausprägungen der Leistungsstandards ist eine Verständigung über nationale Bildungsstandards, die auch Schlüsselkompetenzen umfassen, überfällig. Statt Noten, die nur punktuell den Leistungsstandard wiedergeben, ist es notwendig, individuelle Lern- und Entwicklungsberichte zu erstellen. Schulen müssen in die Lage versetzt werden, nach Diagnosen gezielt Fördermaßnahmen besonders für Kinder aus Migrantenfamilien und sozial benachteiligten Familien einzuleiten."

Pisa bestreitet den Sinn einer Quotierung der Ausländer

Die neuerliche Diskussion um einheitliche Bildungsstandards stieß beim Deutschen Lehrerverband auf Ablehnung. "In vielen CDU-Ländern existieren doch bereits verbindliche Regelungen und zentrale Prüfungen", betonte der Bundesvorsitzende Josef Kraus. Dagegen gebe es in der Mehrzahl der SPD-regierten Länder an Haupt-, Real- und Gesamtschulen keine Abschlußprüfungen. Wenn in den nächsten zwei Schuljahren nicht bundesweit einheitliche Standards eingeführt würden, wäre die einzige "heilsame Lösung", die gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse aufzuheben. "Wir erleben doch immer wieder, daß Schüler, die aus SPD-regierten Ländern nach Bayern oder Baden-Württemberg wechseln, plötzlich schlechtere Noten erhalten oder gar ein Schuljahr wiederholen müssen", sagte Kraus dem Nachrichtenmagazin Focus. Würde die 1993 von den Kultusministern vereinbarte Regelung aufgehoben, müßten Schüler bei einem Wechsel in ein anderes Bundesland Aufnahmeprüfungen machen. Die sei eine gute Möglichkeit, um den Wettbewerb zwischen den Bundesländern anzuheizen. Die Diskussion um die Kulturhoheit der Länder sei ebensowenig neu wie zukunftsweisend. Zuvor hatte die CDU-Vorsitzende Angela Merkel gravierende Einschnitte und ein Umdenken gefordert. "Nach der jüngsten Pisa-Studie sind bundesweite Standards für die Schulabschlüsse unerläßlich. Dies muß auch bei der Benotung gelten, damit sie länderübergreifend vergleichbar werden." Merkel betonte, den Ländern müsse jedoch die Freiheit gelassen werden, "auf welchem Wege die Bildungsziele erreicht werden".

In eine gänzlich andere Richtung ging der Vorschlag, den der hessische Kommunalpolitiker Josef Heinz (CDU) aus Rüsselsheim am vergangenen Wochenende machte. Nach seiner Ansicht müsse es den Eltern generell freigestellt werden, in welche Schule sie ihre Kinder schicken, auch wenn sich daraus in einzelnen Schulen ghettoähnliche Verhältnisse entwickeln könnten. "Die viel beschworene Formel der Integration darf nicht auf Kosten der einheimischen Bevölkerung gehen", meinte Heinz.

Solche nonkonformen Töne bleiben in der Regel nicht ohne sofortigen Widerspruch. In Rüsselsheim besorgte dies der örtliche Grünen-Chef Heiner Friedrich. "Was Josef Heinz fordert, läuft praktisch darauf hin, die ohnehin schon vorhandenen Tendenzen zu einer Parallelgesellschaft weiter zu verfestigen und damit die Spaltung der Gesellschaft zu vertiefen." Friedrich sagte weiter, er halte eine solche Wahlfreiheit mit Blick auf die Entwicklung der Grundschulen in vielerlei Hinsicht für verhängnisvoll. Schließlich habe die Pisa-Studie gelehrt, daß die bestehende Aufteilung (Segregation) der Schüler in massiver Weise dem Prinzip der Chancengleichheit gegenüberstehe. Gerade für die Grundschüler komme es darauf an, ihnen wohnungsnahe Schulen anzubieten. Die geltende Schulbezirks-Regelung garantiere überdies eine soziale Durchmischung der Klassenstrukturen mit der positiven Wirkung, daß hier für den Ansatz der Integration ein Fundament gelegt werde.

Friedrich verwies in diesem Zusammenhang darauf, daß viele bestehende Freundschaften zwischen deutschen und ausländischen Kindern in Kitas und Schulen für eine den Zusammenhalt der Gesellschaft fördernde Sozialisation von unschätzbarem Wert seien. Natürlich gebe es angesichts des gerade in Rüsselsheimer Schulen hohen Anteils an Kindern aus Zuwandererfamilien erhebliche Probleme, aber die müßten auf eine gänzlich andere Weise angepackt werden, vor allem über eine gezielte und frühzeitige Heranführung an die deutsche Sprache. Der hessischen Landesregierung sei in dieser Hinsicht eine richtige Konzeption zu bescheinigen. Ausdrücklich betonte Friedrich, wenn in einer Klasse Kinder mit unterschiedlichen Erfahrungen und ethnischen Besonderheiten zusammenträfen, bedeute dies gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung für alle Beteiligten auch eine Chance. Diese Chance dürften vemehrt gerade Sozialschwache wahrnehmen, denn in den vergangenen Jahren sei ein zunehmender Trend hin zu teuren Privatschulen zu spüren. Eltern mit höherem Einkommen würden immer mehr dazu tendieren, ihre Kinder bei kommerziellen Lehranstalten anzumelden, um die Einschulung in eine Klasse mit stark erhöhtem Ausländeranteil zu vermeiden.

In Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen gibt es deswegen schon seit Monaten Bestrebungen, durch Einführung einer sogenannten Ausländerquote dieser Problematik Abhilfe zu schaffen. Befürworter dieser Quoten-Regelung sind unter anderem der hessische Ministerpräsident Roland Koch, der CDU-Vorsitzende von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, und der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel. Nach ihren Vorstellungen ist bei einer Ausländerquote von mehr als 20 Prozent die Schmerzgrenze erreicht. Eine gezieltere Integration sei nur durch das "Aufbrechen von Ghettos" und einer "Verteilung der Schüler" zu erreichen.

Die migrationspolitische Sprecherin der Grünen im nordrhein-westfälischen Landtag, Sybille Haussmann, hat ein anderes Lösungskonzept. Sie forderte zum Beispiel konfessionell gebundene Schulen in direkter Nähe auf, "einen Beitrag zur Integration zu leisten". Im Essener Norden gäbe es eine städtische Grundschule mit einem Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund von 97 Prozent, an der gegenüber liegenden konfessionellen Schule läge er unter 10 Prozent. "Hier ist der Hebel anzusetzen. Auch Änderungen der Zuschnitte von Schulbezirken sind eine mögliche Maßnahme." Schulen, die unter privater Trägerschaft der katholischen Kirche stehen, treffen traditionell eine Eigen-Auswahl bei den Neuaufnahmen. Nach dem Willen von CSU-Chef Edmund Stoiber soll dies auch so bleiben. Der bayerische Ministerpräsident schlägt statt dessen vor, Ausländerkinder ohne ausreichende Sprachkenntnisse sollten in sogenannte "Sprachlernklassen" eingegliedert werden. Kritiker der Quoten-Regelung weisen außerdem darauf hin, daß durch das geplante Vorhaben ein unnötiger Verwaltungsaufwand betrieben würde und ein Erfolg nicht gesichert sei. Um eine "gerechte" Verteilung zu erzielen, müßten Kinder teilweise stundenlang mit dem Bus in eine andere Stadt gefahren werden.

Daß eine Verbindung zwischen geringerem Leistungsniveau und starkem Migrantenanteil durchaus besteht, zeigen auch die Ergebnisse von "Pisa-Sieger" Finnland. Die gebürtige Finnin Thelma von Freymann, die bis 1995 Dozentin am Institut für Angewandte Erziehungswissenschaften und Allgemeine Didaktik der Universität Hildesheim lehrte, warnte zwar davor, direkte Parallelen zwischen beiden Ländern zu ziehen, wies aber darauf hin, daß die deutschen Bildungspolitiker durchaus von der in Finnland gängigen Praxis lernen könnten. Der größte Unterschied besteht allerdings darin, daß in dem skandinavischen Land nur zwei Prozent der Bevölkerung Ausländer seien. Die Quote an Migrantenkindern in den Schulen ist also dementsprechend deutlich geringer. "Für diese Kinder besteht Kindergartenpflicht, damit sie die Sprache bei Schuleintritt richtig beherrschen. Es gibt in finnischen Schulen keine Kinder, die nicht richtig Finnisch können. Folglich muß in Finnland kein einziger Lehrer ein Übermaß an Kraft und Zeit investieren, um sich den Verständnisschwierigkeiten zu widmen", erklärte von Freymann und sieht in diesem Zusammenhang einen Hauptgrund für die Probleme in Deutschland. Durch Sprachschwierigkeiten der Ausländerkinder würden die Lehrer oftmals aufgehalten und die Klasse in der Aufnahme des Lernstoffes gebremst.

Türkische Zeitungen sehen Landsleute als Sündenböcke

Im Vergleich des "Durchschnitts-Teilnehmers" Deutschland mit dem Sieger Finnland offenbart sich bei näherem Hinsehen noch eine Auffälligkeit. 40 Prozent der finnischen Schulen haben nicht mehr als 50 Schüler. 60 Prozent haben nur bis zu sechs Lehrkräfte. Nur drei Prozent aller finnischen Schulen haben mehr als 600 Schüler. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die durchschnittliche Schülerzahl bei 600. Aus diesen Fakten schließt Thelma von Freymann: "Weshalb es an finnischen Schulen so gut läuft, liegt vor allem an der Schulautonomie: Jede Schule wählt ihre Lehrer selbst aus und legt auch Dinge wie etwa die Sprachenfolge selbst fest." Durch diese Maßnahmen entstehe ein regelrechter Wettbewerb.

Nimmt man die Erklärungen zum Erfolg Finnlands als Ausgangspunkt für eine neue deutsche Bildungspolitik, dann gehen die eilig vorgebrachten Forderungen nach noch mehr Integration und Vereinheitlichung der Schulausbildung genau am Thema vorbei. Aufgeregt reagierten im übrigen auch die Deutschland-Ausgaben der türkischen Tageszeitungen. "Die Pisa-Rechnung geht an uns", schimpfte deshalb die Hürriyet: "Weil Deutschland im weltweiten Vergleich hinten ansteht, wird für ausländische Kinder vor der Einschulung ein Sprachtest verlangt. Die Pisa-Studie soll Thema der Zuwanderungsdebatte werden. Wir sind wieder die Sündenböcke." In der Kritik an der deutschen Bildungspolitik ging das Blatt Türkiye noch weiter. Die Zeitung machte die deutsche Gesellschaft und das mangelhafte Integrationsangebot für das Resultat der Pisa-Studie verantwortlich. "Deutschland unterscheidet sich, was den Anteil an Migrantenkindern angeht, kaum von Schweden, das dennoch einen der vorderen Pisa-Plätze belegt hat. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Nicht der unwichtigste Unterschied ist eine völlig andere Einwanderungspolitik. Keineswegs rigoroser, aber gezielter und viel stärker auf Integration ausgerichtet."


 
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