© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/03 14. März 2003


Die Schüler baden es aus
Neue Ergebnisse der Pisa-Studie offenbaren das Debakel deutscher Bildungspolitik
Ellen Kositza

Pisa und kein Ende: In der vergangenen Woche wurden die detaillierten Ergebnisse der bereits im Jahr 2000 von der OECD durchgeführten Untersuchung Programme für International Studies Assessment, nun aufgeschlüsselt nach Bundesländern, veröffentlicht. Wie im Vorjahr, als das Gesamtergebnis der Studie mit dem Schwerpunkt auf der "Lesekompetenz" fünfzehnjähriger Schüler ein miserables Ergebnis für die Bundesrepublik auswies, schlägt das Volk bestürzt die Hände über dem Kopf zusammen. Deutschlands größtes Boulevardblatt, die Bild-Zeitung, griff einen Punkt der Studie heraus, wonach schon ein geringer Ausländeranteil in den Klassen für einen Leistungsabfall sorge.

Prompt präsentierten Gewerkschaftsvertreter und Politiker die seit Jahren zurechtgelegten und nur wiedergekäuten "Gegenargumente". Hervorgehoben wird die Chance, die das Zusammentreffen von Kindern mit "unterschiedlichen Erfahrungen und ethnischen Besonderheiten für alle Beteiligten" böte. Auch deutsche Vorschulkinder beherrschten ihre Sprache oft unzureichend, werfen die Grünen ein. Schweden mit vergleichbarem Ausländeranteil stünde besser da als Deutschland, und erst Kanada und die USA, die klassischen Einwanderungsländer! Linke wie rechte Mitte rufen in relativer Einstimmigkeit und mit unterschiedlichen Akzentsetzungen wiederholt nach Ausweitung des Sprachunterrichts für Ausländerkinder, nach Ganztagsschulen zum Auffangen sozialer Ungleichheit, nach stärker praxisorientierter Lehrerausbildung.

Während Pisa also erneut für Schlagzeilen sorgt, drängen zeitgleich zwei andere Studien in die Medienöffentlichkeit. Zum einen eine Untersuchung der Arbeiterwohlfahrt, die Armut als höchstes Bildungsrisiko benennt, zum anderen das Resultat des Migrationsforschers Dieter Oberndörfer, wonach Deutschland , wolle es nicht untergehen, mindestens 300.000 Zuwanderer benötige. Das dürfte in der Zusammenschau bedeuten: Weiter Dienst nach Vorschrift, Arbeit am Symptom ist angesagt.

Rechnete man die Ausländerkinder (im Soziologendeutsch der Studie "Schüler mit Migrationshintergrund") weg, befände sich Deutschland statt am Tabellenende im Mittelfeld mit Dänemark und Norwegen, was das mathematische Grundwissen betrifft, sogar im oberen Drittel. Die Autoren der detaillierten Pisa-Interpretation weisen darauf hin, daß eine solche Rechnung auf Druck der Öffentlichkeit vorgenommen worden sei, verweisen auf "erhebliche Vergleichbarkeitsprobleme" und kommen zu dem gegen die Zahlen abgemilderten Schluß, daß deutsche Schulen ohne Migrantenkinder "nur geringfügig besser" dastünden. Ob sich aber durch bloße Substraktion der Ausländerleistungen errechnen läßt, welche Leistungen Schüler in kulturell homogenen Klassen erbrächten, erscheint mehr als fraglich. Wer je, ob als Schüler oder Unterrichtender, eine der westdeutschen Großstadtschulen mit Ausländeranteil von nicht selten über 90 Prozent besucht hat, weiß, wie sehr hier angesichts dauernder Konfliktbewältigung die Vermittlung von Wissen in den Hintergrund treten muß.

In ihrem empfehlenswerten Bestseller "Der Erziehungsnotstand" formuliert das Journalistenehepaar Petra Gerster und Christian Nürnberger: "Gemeinsames Lernen setzt ein gewisses Maß an Homogenität des Vorwissens, der Vorbildung, des kulturellen Hintergrundes voraus. Wird dieses Maßunterschritten und fehlt auch noch eine gemeinsame Sprache, wird Unterricht zu einer sinnlosen Veranstaltung." Erstaunlich bleibt, wie rasch solche Stimmen immer wieder verhallen. Gewohnt reflexartig werden Tendenzen und selbst klare Aussagen der Studie je nach politischem Standort oder eigenem Interesse ausgelegt, bemüht man sich um entlegene Gegenbeispiele ("22 Nationen in einer Klasse:Wir halten zusammen!"), um das Überdeutliche zu verklären.

Und wie kommt es eigentlich, daß ausländische Schüler in Bayern und Baden-Württemberg mit Blick auf die Gesamtleistung der Schüler besser integriert scheinen als in Bremen und Berlin? Ist das einem schlechteren Integrationskonzept anzulasten, wie man auszuweichen versucht? Dann wären die CDU/CSU-regierten Länder für fremdmuttersprachliche Kinder ein Segen. Oder liegt es an der unterschiedlich hohen Anzahl der zu Integrierenden? Und warum zeigen Kinder von Spätaussiedlern mit polnischer oder russischer Muttersprache signifikant bessere Ergebnisse als Türkenkinder? Nur ein soziales Toleranzproblem oder eine Frage der kulturellen Entfernung?

Nun sind Statistiken das eine, das andere ist die Interpretation der Zahlen, hier vorgenommen durch das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, und die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Betrachtet man die nackten Zahlen, so entsteht leicht der Verdacht, daß die Studie mehr Fragen aufwirft, als sie zu beantworten imstande ist. Beispiel: Der Zusammenhang zwischen mütterlicher Erwerbstätigkeit und einer gymnasialen Schullaufbahn. Nahezu überall haben Kinder von teilzeitbeschäftigten Müttern die besseren Karten als der Nachwuchs von voll arbeitenden Frauen. Völlig entgegengesetzt ist die Situation in Mecklenburg-Vorpommern. Nach der Studie hat das Kind einer Vollzeitbeschäftigten eine dreieinhalb Mal höhere Chance zum Eintritt in ein Gymnasium als das Kind einer Hausfrau.

Beispiel "soziale Kompetenz": Hier sollten die Schüler angeben, wie oft sie ihren Mitschülern bei persönlichen und schulischen Problemen helfen. Der Westen schnitt dabei weit besser ab als der Osten der Republik ("Verantwortungsablehnung"). Wachsen da an mitteldeutschen Schulen nach Jahrzehnten sozialistischer Prägung unsolidarische Haufen heran, oder wissen die Westler nach ebenso langer realdemokratischer Erziehung einfach besser, welche Antworten man von ihnen verlangt?

Der nächste Test folgt noch in diesem Jahr, doch wird keine Sau vom Wiegen fetter. Als Sofortmaßnahmen müßten her: ein verpflichtender Sprachtest (nicht nur der Nachweis eines belegten Kurses) vor dem Schuleintritt, daneben einheitliche Bildungsstandards (keine dehnbaren "Rahmenrichtlinien") bei gleichzeitig größtmöglichem Gestaltungsspielraum für die Schulen. Letzteres selbst auf die Gefahr hin, daß dann neben Eliteschulen umgekehrt auch Sammelbecken für wenig begabte Schüler entstehen werden.

Es bleibt abzuwarten, ob der Schock heilsame Folgen nach sich ziehen wird. Immerhin hatten bereits die für Deutschland katastrophalen Ergebnisse der sogenannten TIMSS-Studie (Third International Mathematics and Science Study) 1997 medienweit hohe Wellen geschlagen. Deutliche Konsequenzen folgten damals nicht. Zahlen kann man drehen und wenden, und am Ende ist es doch immer einfacher, sich weiter in die eigene Tasche zu lügen.


 
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