© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/03 07. März 2003

 
Anatomie des Terrors
von Vladimir Brjuchanov

Der politische Terrorismus ist eines der wichtigsten Probleme der Gegenwart. Und die Natur dieses Phänomens ist auch heute noch bei weitem nicht erschöpfend untersucht und analysiert worden. Die Erfahrung des internationalen Terrorismus sowie des Terrorismus in Rußland der letzten zwei Jahrhunderte lehrt: Ein Terrorakt gegen ein gut bewachtes Objekt kann nur durch eine gut organisierte Gruppe verübt werden, wo Menschen unterschiedlichster Art zusammengefaßt sind.

Als unmittelbar Ausführende agieren üblicherweise Menschen, die aus welchen Gründen auch immer in einen schweren dauerhaften Streßzustand geraten sind. Als einziger Ausweg aus dem Streß bietet sich ein Akt der Aggression gegen sich selbst oder gegen andere. Ist ein solcher Mensch nicht mit einer extremistischen Organisation liiert und hat er keine deutlichen politischen Bestrebungen, dann kann sich seine Aggression gegen allerlei Objekte richten. Manchmal kommt es zu Massenmorden von Unbekannten und Unbeteiligten; für dieses Phänomen ist der terminus technicus "Amok" üblich.

Erheblich öfter kommt es zu banalen Selbsttötungsdelikten. Für Menschen mit stabiler Psyche bleibt die Motivation der Täter meistens verschlossen. Solche Tragödien passieren in allen menschlichen Gemeinschaften und haben nicht unbedingt irgendeinen sozial-politischen Hintergrund, obwohl sozialer Streß oft im Spiel ist. Für die Herren des Terrors sind solche Menschen ein wahrer Schatz, der für "die gute Sache" eingesetzt werden kann.

Mangel an geeignetem Personal kann die Ausführung des geplanten Vorhabens erheblich verzögern. Die Suche nach Menschen im Streß gehört deshalb zu einer der wichtigsten Aufgaben der Terrorväter. Man kann Menschen aber auch zielbewußt und aufgabengerecht in einen solchen Zustand bringen. Der Terrorist der unteren Ebene ist nicht nur Mörder, sondern gleichzeitig auch Opfer des Terrors. Um seine spezifische Bereitschaft zu erhalten bzw. zu verstärken, - die sich ja sonst von selbst entladen könnte,- muß man dem potentiellen Vollstrecker eines Terroraktes entsprechende psychologische Pflege zukommen lassen. Er muß schnellstmöglich eingesetzt werden, - jedoch nicht auf Kosten der nötigen technischen Vorbereitung und Kampfausbildung. Solche widersprüchlichen Forderungen sind oft Quelle zahlreicher Konflikte innerhalb terroristischer Organisationen.

Ein gespanntes politisches Umfeld schafft Streßsituationen en masse. In Palästinensergebieten, in Nord-Irland, im Baskenland und in Tschetschenien ist es heute nicht schwer, potentielle Terroristen zu finden. Dasselbe läßt sich übrigens bezüglich fast aller Kriege behaupten, denn ein Krieg ist Schauplatz wahrer Wunder der Selbstaufopferung und Grausamkeit. Die Beendigung eines Krieges begünstigt den Terror ebenfalls: Kriegsveteranen können sich oft an das Leben im Frieden nicht anpassen, und bei vielen von ihnen handelt es sich um Menschen, die berufsmäßig zum Töten ausgebildet worden sind.

Durch ihre psychologische Unausgeglichenheit - meistens in Verbindung mit mangelnder Lebenserfahrung - sind die potentiellen Terroristen der unteren Ebene nur äußerst selten fähig, einen richtigen Terrorakt zustande zu bringen. Das Beispiel des Massenterrors in Palästina ist typisch in dieser Beziehung. Sich selbst inmitten der Menge in die Luft zu sprengen oder einen Polizisten zu töten erfordert bereits ein bestimmtes Maß an technischer Vorbereitung, das heißt Organisation. Schwerere und ernsthaftere terroristische Verbrechen verlangen erst recht nach ausgeglichenen, technisch klugen und qualifizierten Führern im Hintergrund.

Führer terroristischer Organisationen reifen üblicherweise im intellektuell gebildeten und materiell unabhängigen Milieu heran. Alle Führer und Ideologen des russischen revolutionären Extremismus in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20.Jahrhunderts waren ausgesprochen intelligente Menschen. Die meisten entstammten dem russischen Adel sowie der Geistlichkeit und dem Mittelstand. Eine auffallend bedeutende Rolle spielten Intellektuelle, diezur ersten Akademikergeneration in ihren Familien gehörten. Das soziale Porträt der heutigen Anführer des Terrors (angefangen mit Osama bin Laden) ist eine reine Kopie dieses Bildes.

Motiviert werden sie von ihrem überdimensionalen Ehrgeiz. Von Kindesbeinen an auf einen hohen sozialen Status programmiert, begegnen sie als Erwachsene den ärgerlichen Schwierigkeiten seiner sofortigen Inanspruchnahme. Einige können den Reichtum ihrer Vorfahren erben, jedoch normalerweise erst nach deren Ableben. Und der gesellschaftliche Status der Älteren läßt sich nicht direkt erben. Noch größere Schwierigkeiten erwarten die Intellektuellen der ersten Generation, da sie über keine nützlichen Traditionen und Familienbeziehungen verfügen.

Eine Alternativlösung könnte Militärdienst sein. Während eines langen Krieges könnte man unter Umständen bereits mit 25 Jahren Oberst oder sogar General werden, wozu allerdings Bildung und harte Arbeit gehören -Kühnheit und Glück allein bringen einen nicht weit genug, und hat man Pech, dann fällt man ohne jeglichen Erfolg. Viel attraktiver erscheint eine Revolutionskarriere. Was ist aber, wenn Krieg und Revolution auf sich warten lassen?

Eine erfolgreiche Lebensgestaltung erfordert in jedem Fall viele Jahre Fleiß und Schweiß, und das ohne Erfolgsgarantie. Kein Fall für die Super-Ehrgeizigen. Mit einer Allerweltskarriere sind sie nicht zufrieden. Hinzu kommt es, daß die jeweils vorhandene Situation sehr subjektiv beurteilt wird, beurteilt von jungen, unreifen und ungeduldigen Menschen. Die meisten lassen es sogar an Geduld zum Abschluß ihrer Ausbildung fehlen.

Das Schicksal hat den erwähnten Osama bin Laden von Geburt an großzügig beschenkt. Seine Lebenserfolgsaussichten hätten ein goldener Traum jedes Ehrgeizlings sein können. Aber auch sie genügten seinen Ansprüchen nicht. Das Leben eines Milliardärs konnte ihn nicht reizen: Über "einfache Milliardäre" wird nicht jeden Tag überall in der Welt ausführlich berichtet, ihre Macht ist nicht grenzenlos, und in der Geschichte der Menschheit hinterlassen sie keineswegs die markantesten Spuren. Die Schlußfolgerung lautet messerscharf: der kürzeste Weg zum Reichtum ist der Bankraub, und der kürzeste Weg zum politischen Erfolg, zum Einfluß und zum Ruhm ist der politische Terror!

Der Terror ist außerdem aber auch ein wirksames Mittel der politischen Einflußnahme. Das ist der Grund, warum sogar respektable Poltiker - keineswegs Extremisten - manchmal der Versuchung eines solchen Mittels erliegen,- nicht der utopischen Ziele wegen, sondern um durchaus pragmatisch-praktische Ergebnisse zu erzielen. Solche Politiker sind das dritte - das entscheidende - Element einer erfolgreichen terroristischen Aktivität.

Sie wählen das Objekt des terroristischen Anschlags, sie finanzieren teure Programme seiner Vorbereitung und Ausführung, sie liefern den Terroristendie nötigen technischen Mittel, sie unterstützen die Ausarbeitung von realistischen Plänen zum Erreichen des gesteckten Ziels, sie geben den Terroristen eine verdeckte (oft unentbehrliche) administrative Unterstützung. Ihr Herrschaftswissen und logistisches Können lassen die Idee des Terrors Wirklichket werden.

Die wahren Ziele dieser Hintermänner sind nicht immer deckungsgleich mit den deklarierten Zielen der Terroristen, und oft genug sind sie sogar das direkte Gegenteil davon! Die Terroristen der unteren Ebene geraten dabei in die Rolle von Marionetten, die von unsichtbaren Spielern aus dem Hintergrund heraus manipuliert werden.

Diese drei Schichten der Terrorszene lassen sich analog der Organisationsstruktur eines Industriebetriebs betrachten: Arbeiter, Administration und Eigentümer. Die Geschichte bietet Beispiele von verschiedenen Übergangsformen zwischen den genannten Kategorien.

Die wirkungsvollste terroristische Organisation des 20. Jahrhunderts existierte in Rußland in den Jahren 1902 bis1908. Sie verübte Dutzende von Anschlägen. Unter den Getöteten waren zwei Minister des Inneren des Russischen Kaiserreichs. Einige Anschläge wurden durch polizeiliche Maßnahmen vereitelt. An der Spitze dieser Organisation stand Ewno Asef, ein Russe jüdischer Abstammung, der in Deutschland studiert hatte, und ein wahres Genie der Theorie und Praxis des Terrors. Er hatte bereits die Idee, Flugzeuge einzusetzen. 1908 kam es zu seiner Demaskierung als Vertrauensmann der Polizei. Die Bezahlung war fürstlich gewesen.

Der bedeutendste Erfolg des Terrors im 20.Jahrhundert bleibt der Mord von Sarajewo, der bekanntlich zum Ersten Weltkrieg führte. Die unmittelbaren Mörder waren ganz junge Serben - Studenten, Gymnasiasten, Arbeiter. Sie waren serbische Patrioten; einige befanden sich unter dem unmittelbaren Einfluß von damals wohlbekannten internationalen Revoluzzern, insbesondere - Leo Trotzki. Doch weder Trotzki noch andere Extremisten waren imstande, den Mord von Sarajewo zu organisieren. Der terroristische Anschlag wurde vom russischen Militärattaché in Belgrad finanziert. Die unmittelbare Vorbereitung und die Bewaffnung der Terroristen, ihr illegaler Grenzübergang und ihre Konspirativunterkünfte in Österreich-Ungarn wurden durch die Führung des serbischen Geheimdienstes sichergestellt.

Vor wenigen Jahrzehnten erst wurde die Bundesrepublik Deutschland Opfer des RAF-Terrors. Die Entwicklung folgte klassischen Regeln. Es begann mit heftigen Unruhen im Milieu der studierenden Jugend. Die Atmosphäre des Protestes und des öffentlichen Krawalls in Verbindung mit Straflosigkeit trug zur Aktivierung von Personen bei, die zum aktiven Terror fähig waren. Die terroristischen Aktivitäten begannen mit kleinen Anschlägen und gewannen immer mehr an Professionalität. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands stellte es sich heraus, daß die Führung des Terrors und seine Logistik maßgeblich vom "souveränen" östlichen Nachbarn operativ gesichert wurden.

Reichskanzler Bismark sagte einmal, daß die Geschichte uns immer wieder nur das eine lehrt: die Völker lernen nie aus der Geschichte. Dies trifft zweifellos zu: zwei Jahrhunderte der Geschichte des Terrorismus haben uns nichts gelehrt. Nach wie vor sterben zahlreiche Opfer des Terrors und seine unmittelbaren Vollstrecker. Die Führer des Terrors werden dagegen nach wie vor nur in den seltensten Fällen bestraft. Der erwähnte Asef wurde weder von den Revolutionstätern noch von der Regierung des zaristischen Rußlands verfolgt.

Eine beispielhafte Ausnahme war die Bestrafung des Obersten D. Dmitrijewitsch und seiner Kollegen, der Organisatoren des Mordes von Sarajewo. 1915 wurde die serbische Armee geschlagen und das ganze Serbien von deutschen und österreichischen Truppen besetzt. 1917 wurde es klar, daß Rußland - Serbiens wichtigster Freund und Protektor - nicht zu den möglichen Siegern gehören würde. Es schien damals absolut sicher, daß die Zukunft des serbischen Volkes von Deutschland und seinen Verbündeten abhängen würde. Also wurden das Oberhaupt der serbischen Militäraufklärung und seine Mitstreiter von ihrer eigenen Regierung des Verrats beschuldigt und bald darauf erschossen. Dies war eine Art "Entschuldigung" für den Mord von Sarajewo; gleichzeitig wurden auch die überinformierten Zeugen beseitigt.

Nach 1918 bemühte man sich, diese Geschichte zu verdrängen. Laut Friedensvertrag von Versailles zählte Serbien zu den Siegern, und die unmittelbaren Mörder des Erzherzogs Franz-Ferdinand von Österreich wurden zu Nationalhelden des neugeborenen Jugoslawien.

Immer noch werden gänzlich unbeteiligte Menschen für terroristische Taten bestraft - und das massenhaft. 1914 fielen Artilleriegeschosse auf Belgrad, und 2001 Bomben und Raketen auf Afghanistan. Nach wie vor gehen die unsichtbaren Herren des Terrors ungestraft ihrem Geschäft nach. Sie lassen ihre Programme nicht von Parlamenten ratifizieren, sie geben keine Interviews und keine Pressekonferenzen.

Wenn es den Amerikanern tatsächlich noch mehr gelingt, die Welt nicht nur wirtschaftlich und kulturell, sondern auch politisch zu beherrschen, wird das keineswegs das Ende des Terrorismus sein. Im Gegenteil wird dann der Terror das einzige Mittel werden, sich gegen diese Macht überhaupt noch Gehör zu verschaffen, ja die Existenz von Unzufriedenheit zu bezeugen. Die RAF-Terroristen hatten sich in ihrer Überspanntheit eingebildet, daß der Terror ein Signal der Freiheit gegen einen "repressiven Staat" sei, und daß der unkritisch gemachte, durch Konsumangebote gelenkte Bürger nur noch durch Gewalt aufzurütteln wäre. So legitimierten sie ihre Taten. Jeder nüchtern Blickende mußte aber erkennen, daß in der Bundesrepublik Deutschland der siebziger Jahre wie in anderen westlichen Ländern sehr wohl andere, gewaltfreie Möglichkeiten zum politischen Protest und zur politischen Veränderung bestanden. Das muß aber nicht immer so bleiben. Es wäre durchaus ein Zustand vorstellbar, wo die globale Herrschaft einer einzigen Macht dem Terrorismus wieder eine moralische Legitimation verschafft, wie er sie in totalitären Regimen stets behielt.

 

Vladimir Brjuchanov ist Mathematiker und gehörte in den siebziger und achtziger Jahren zur Dissidentenbewegung in der Sowjetunion. Seit 1992 lebt er in Deutschland. 2002 erschien in Frankfurt am Main "Die Verschwörung des Grafen Miloradowitsch".


 
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