© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/03 07. März 2003

 
Kurdistan als ferner Traum
Irak: Trotz unzuverlässiger Zusagen in der Vergangenheit sehen die Kurden nach wie vor die USA als natürlichen Verbündeten auf dem Weg zu einem eigenen Staat
Günther Deschner

Kurdistan, in den ersten Märztagen 2003. Eine merkwürdige Stimmung liegt über dem Land! Jeder wartet darauf, daß in diesem Orient-Western, der schon einige Zeit läuft und dessen Zuschauer wir sind, die Zeiger der Uhr unerbittlich vorrücken auf "Zwölf Uhr mittags", daß dann George W. Bush anfangen wird, gegen Bagdad zu ballern, daß man bald darauf den verhaßten Diktator Saddam Hussein hinaus auf den Friedhof tragen und daß dann ein regelloses Hauen und Stechen beginnen wird, dessen Ausgang in den Sternen steht und bei dem man am Ende lange brauchen wird, die Toten zu zählen und dahinter zu kommen, wen man zu den Siegern zählen darf und wen zu den Verlierern.

Momentaufnahmen aus diesen ersten Märztagen machen das Nebeneinander und oft auch Durcheinander von heraufziehendem Krieg und von ganz alltäglicher Normalität deutlich: Im vollbesetzten Fußballstadion von Erbil, der mit einer Million Einwohnern größten Stadt in Irakisch-Kurdistan, wird nachmittags um drei das Heimspiel der Mannschaft "Hewler" (so heißt Erbil auf kurdisch und übersetzt bedeutet es: "Sitz der Götter") gegen den Gastclub "Al Naft" (arabisch "Das Öl") aus Bagdad angepfiffen. Niemand findet was dabei, die begeisterten Zuschauer nicht, und auch nicht die Spieler. Hewler gewinnt mit 1:0. Etwas betröppelt steigen die Bagdader wieder in ihren Bus.

Fünfzig Kilometer südlich von Erbil, an der Demarkationslinie zum Saddam-Irak, geht es am selben Tag nicht so freundlich zu. Während die Frauen gerade das Mittagessen vorbereiten, umstellt eine Einheit der irakischen V-Division den Ort Scherowa und ein paar kleine Nachbardörfer und fordert die Bewohner zur sofortigen Räumung auf. Ahmad Hamoud, der mit anderen Männern zwanzig Kilometer entfernt bei einer kurdischen Einheit Dienst tut, berichtet hinterher: "Sie sagten ihnen: Ihr habt 15 Minuten Zeit, zu verschwinden. Wer danach noch hier ist, wird erschossen. Die Frauen und Kinder nahmen, was sie tragen konnten, verließen die Häuser und liefen, bis sie bei uns waren." Am Nachmittag wurden die Häuser aus Lehm­ziegeln von Planierraupen einge­rissen.

Fast zur gleichen Zeit und 150 Kilometer weiter im Osten gibt der für den Zivilschutz zuständige "Innensenator" der 800.000-Seelen-Stadt Sulaymania, Obeidullah Quadir, so etwas wie eine Bankrotterklärung ab: Weil Gasmasken so gut wie nicht zu kaufen und für Normalverbraucher auch nicht erschwinglich sind, und weil "unsere amerikanischen Freunde" bis heute keine einzige der versprochenen Schutzausrüstungen geliefert haben, sollen möglichst viele Bürger ihre Familien in weniger gefährdete dörfliche Gebiete evakuieren. Zusätzlich werden Anleitungen zum Selbstbau von Ersatzgasmasken verteilt. Sie sollen aus Babywindeln, gemahlener Holzkohle und Salz gefertigt werden. "Uns liegen Informationen vor", so Quadir, "daß bei den uns am nächsten liegenden irakischen Einheiten Chemie- und Biowaffen-Spezialisten eingetroffen sind. Was das bedeutet, wissen wir noch von den Angriffen auf Halabscha und andere Orte in den achtziger Jah­ren."

Überall in der Autonomen Region Kur­distan (die so groß ist wie die Schweiz und in der dreieinhalb der fünf oder fünfeinhalb Millionen Kurden des Irak leben) macht sich der für unausweichlich gehaltene Krieg bemerkbar, ist er das zentrale Thema. Werden die Kurden wieder die Dummen sein? Wird Saddam, wenn er schon die verhaßten Amerikaner oder wenigstens die Israelis nicht direkt treffen kann, sein Mütchen auch diesmal wieder an den Kurden kühlen - mit Strafexpeditionen, Giftgas und Bomben? Im ganzen Land brodelt es. Was ist Nachricht, was ist Gerücht? Wem kann man glauben? Was kann man tun?

Zweimal schon waren Kurden die Opfer falscher Zusagen

Durch den fiebrigen Dschungel aus Hoffnungen und Ängsten finden die wenigsten den Ausweg. Es ist ein Wechselbad der Gefühle, das die Menschen in der "Autonomen Region Kurdistan" umtreibt, sie von einem Extrem ins andere wirft. Einerseits muß man die USA mögen, weil sie den Kurdenhasser Saddam stürzen wollen. Und jeder in Kurdistan weiß, daß man die Chance zur Selbstverwaltung und zur relativen wirtschaftlichen Prosperität vor allem den Amerikanern und der von ihnen und den Briten eingerichteten Flugverbotszone zu verdanken hat.

Andererseits gibt es zumindest bei den Älteren bittere Erinnerungen an die unsichere Halbwertzeit auch allerheiligster amerikanischer Treueschwüre. Zweimal hatten die USA (einmal 1972/73 und dann wieder 1991, nach dem ersten amerikanischen Golfkrieg) die irakischen Kurden zum Aufstand gegen Bagdad gedrängt, zweimal hatten die Kurden ihnen geglaubt und zu den Waffen gegriffen und zweimal hatten die Amerikaner quasi über Nacht ihre ewiggültigen politisch-moralischen Werte an einem aktuelleren Vorteil orientiert, die Kurden fallengelassen und der blutigen Rache Bagdads ausgesetzt. Unvergeßlich ist jedem kurdischen Politiker der zynische Satz Henry Kissingers, man dürfe halt "verdeckte Operationen nicht mit Wohltätigkeitsveranstaltungen verwechseln". Man fährt besser in Kurdistan, wenn man sich nicht auf diesen Ehrenmann beruft.

Wird es diesmal anders sein? Werden die Amerikaner wenigstens diesmal ihre Versprechen halten? Wird man den Traum von der kurdischen Selbstbestimmung noch ein bißchen länger träumen können, so lange, bis es gar kein Traum mehr ist, sondern eine auch von Bagdad und der Welt anerkannte Realität?

Begonnen hatte das neue Techtelmechtel Washingtons mit den Kurden bereits vor Jahresfrist, im April 2002. Die beiden wichtigsten Kurdenführer des Irak folgten damals einer Einladung aus Washington "zu wichtigen Gesprächen". Die beiden oft rivalisierenden, aber gelegentlich vereinten Kurdenführer waren Massud Barsani, der Vorsitzende der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP), und Dschalal Talabani, der Chef der Patriotischen Union Kurdistans (PUK).

Kein Besatzer konnte bisher ganz Kurdistan kontrollieren

Barsani beherrscht den Westen Kurdistans, zur türkischen Grenze hin und verfügt damit auch über die lukrativen Einnahmen aus Zöllen und Schmuggelgeschäften mit der Türkei, Talabani kontrolliert den Osten bis hin zum Iran. Gemeinsam steuern beide die Kurdische Regionalregierung und das Parlament in Erbil, in dem noch etwa 30 weitere Kleinparteien und ethnische Gruppen (Turkmenen, Araber, Armenier etc.) vertreten sind.

Die beiden Kurdenführer erhalten einen großen Bahnhof. Sie sprachen mit Außenminister Powell, mit Cheney und mit Rumsfeld, Barsani wurde zusätzlich vom Präsidenten empfangen. US-Beamte hatten richtig erkannt, daß die Kurden mit ihren Parteien, ihren kriegserfahrenen Milizen, den Pesh Merga ("die den Tod nicht fürchten") und ihrem Reduit im Grenzgebiet zur Türkei der einzige ernstzunehmende Faktor in dem bunten Haufen irakischer Oppositioneller waren, die - damals noch - Saddam beerben sollten.

Bei einem anschließenden Geheimtreffen mit US-Militärs und Geheimdienstlern in der Nähe von Berlin, von dem weder die deutschen Sicherheitsbehörden noch das Auswärtige Amt eine Ahnung hatten ("Wir wissen definitiv, daß an Personen dieses Namens keine Visa erteilt worden sind."), verabredeten die Kurdenführer, ihre Regierungen und Milizen zu vereinigen und sich auf die militärische Zusammenarbeit mit den US-Angriffstruppen vorzubereiten.

Ich habe noch heute die Begeisterung im Ohr, mit der mir ein jüngerer Bruder Barsanis, der diplomatische Vertreter der autonomen Kurdenregion in Berlin, von den weitgehenden Plänen und den Garantien der Amerikaner ("diesmal schriftlich") für eine territoriale Integrität der irakischen Kurdengebiete und für einen kurdischen Anteil an den Öl-Einkünften des Irak im vertraulichen Hintergrundgespräch berichtete.

Der manchmal zum Vorlauten neigende Talabani posaunte im Beiruter Daily Star gleich danach in alle Welt hinaus, seine Pesh Merga würden mit den Amerikanern auf Bagdad marschieren und den Irak befreien. Erschrocken über soviel Naivität, ruderten die US-Beauftragten zurück, geht es Washington doch nicht einfach nur darum, in Bagdad ein willfähriges Regime zu installieren, sondern auch um künftige Stabilität, die die US-Hegemonie langfristig absichert. Eine Beunruhigung der Nachbarn, vor allem der Türkei, die seit Jahrzehnten mit der Unterdrückung ihrer eigenen zwölf bis fünfzehn Millionen Kurden ihre Probleme hat, war mit den Geheimgesprächen nicht intendiert!

Massud Barsani ist eher ein Freund der leisen Töne, ein vorsichtiger, gewiefter und in gewisser Hinsicht auch desillusionierter Politiker. Auch er weiß, daß es seine Autonome Region ohne die Flugverbotszone der Amerikaner nicht gäbe, aber deswegen ihr willenloses Werkzeug zu sein, das käme ihm kaum in den Sinn. Schon sein langes Zögern, sich in die von Washington ausgehaltene Gruppe irrelevanter irakischer Emigranten zu begeben, die als Irakischer Nationalkongreß auftritt, spricht für diese Einschätzung.

Schließlich ist auch die militärische Kraft der Kurden kein Anlaß, sich den Amerikanern als Partner aufzudrängen. Zwar verfügen die KDP und die PUK über mindestens je 25.000 ausgebildete und mit leichten Infanteriewaffen ausgerüstete Pesh Merga und nochmals die gleiche Zahl an Reservisten. Eingesetzt im Partisanenkampf zur Verteidigung der Gebirgstäler und Schluchten des "wilden Kurdistan", hat sich bisher noch jede reguläre Armee an diesen "Todesbereiten" die Zähne ausgebissen.

Aber aus den oft nach Sippen- und Stämmen organisierten Partisanenverbänden ein stehendes Heer zu bilden, mit dem man eine ganze Region, Großstädte und das Flachland militärisch sichern könnte, dafür fehlen Zeit, schwere und moderne Waffen. Und vielfach fehlen sogar die jungen Männer zwischen achtzehn und dreißig. (Sie kann man heute leichter auf Massenveranstaltungen der KDP und der PUK in Berlin, Frankfurt oder Dortmund finden als in der kurdischen Heimat!). Hamid Afandi, der KDP-"Verteidigungsminister" bringt die militärische Diskussion auf den Punkt: "Wir wollen nicht den Irak angreifen. Wir wollen Kurdistan verteidigen."

Darüber, daß Washington, das noch vor wenigen Monaten so weitgehende Pläne mit den Kurden hatte, bis zum heutigen Tag keine modernen Waffen lieferte, die der Verteidigung dienen, sind die Kurden mehr als konsterniert. Die kurdische Führung macht sich ihre Gedanken. Barsani sowieso und inzwischen auch der ernüchterte Talabani.

Natürlich ist der kurdische Traum viel größer und leuchtender als das, worüber kurdische Politiker reden und laut denken dürfen. Die meisten Kurden verstehen unter der politischen Verwirklichung von Freiheit und Selbstbestimmung eindeutig einen eigenen Kurdenstaat. Die 25 bis 30 Millionen Kurden sind nach Arabern, Türken und Persern das viertgrößte Volk des Nahen Ostens. Sie können sich nicht damit abfinden, daß die kurzsichtige Machtpolitik der Westmächte nach dem Ersten Weltkrieg Kurdistan zerstückelt und im schon damals verfehlten "nation building" anderen Staaten einverleibt hat.

Die meisten Kurden in der Autonomen Region haben ihre Schwierigkeiten damit, sich als Iraker zu fühlen. Nach zwölf Jahren kurdischer Freiheit haben die Jungen keine irakische Identität und viele haben auch nicht mehr Arabisch gelernt. Und für die ältere Generation ist das Wort "Irak" gleichbedeutend mit Giftgas, Deportation und Exekutionen. Für die Realpolitiker im irakischen Kurdistan ist die Sache nicht so einfach. Sie müssen und sie wollen sich mit dem begnügen, was sie für machbar halten. In den letzten Monaten, in denen sie annahmen, für die USA ein wichtiger Partner zu sein, wurde das Ziel offen diskutiert und formuliert: Unabhängigkeit von Bagdad, warum nicht als eigener Staat? Gemeinsam arbeiteten KDP und PUK einen Verfassungsentwurf für die Zeit nach Saddam aus. Als Hauptstadt wurde das 3.000jährige Kirkuk auserwählt, so etwas wie ein kurdisches Jerusalem, eine Großstadt am nördlichen Rand der mesopotamischen Tiefebene - und Zentrum eines der reichsten Erdölgebiete des Irak. Seit Jahrzehnten wurde diese Stadt von Bagdad rücksichtslos arabisiert, mehr als hunderttausend Kurden wurden daraus vertrieben. Sie sollen im neuen Kurdistan zurückkehren dürfen.

Keine Hoffnung der Kurden auf das Ölgebiet um Kirkut

Maliziös wies Barsani seine amerikanischen Gesprächspartner darauf hin: "Nach dem Zerfall der Sowjetunion bekamen viel kleinere Völker ihren eigenen Staat und sind jetzt begehrte Partner der USA. Warum nicht wir?" Doch: The president was not amused. Aus Rücksicht auf Bedenken Washingtons und Ankaras beschied man sich dann mit der "gesicherten Autonomie, das heißt Selbstregierung, im Rahmen eines föderal strukturierten neuen Irak". Und die haben ihnen die US-Politiker für die Zeit nach dem Sieg über Saddam versprochen, wenn Ankara keinen Strich durch die Rechnung macht. Die türkische Regierung hat Washington inszwischen immer unverblümter verdeutlicht, daß das auch die Türken auf dem Schachbrett des Nahen Ostens mitspielen wollen. Eine Hauptstadt im ölreichen Gebiet? Nein! Noch mehr Geld in kurdischen Kassen könnte eines Tages den unterdrückten kurdischen Volksgenossen in der Türkei zugute kommen! Quasi-staatliche Autonomie für den kurdischen Bauern? Nochmals nein! Autonomie könnte doch die Vorstufe sein für einen eigenen Staat! Schon drohen die Türken, selbst das zu tun, was sie dem amerikanischen Militär verweigern: mit eigenen Truppen in den kurdischen Nordirak einzumarschieren.

In Erbil, in Salahaddin (dem Hauptquartier Barsanis) und in Sulaymania (wo Talabani regiert) schrillen die Alarmglocken. Für die Pesh Merga gilt Alarmstufe Rot. "Wir wollen und wir dulden hier keine Türken", sagt der sonst so zurückhaltende Massud Barsani. "Wenn sie ohne unsere Zustimmung einmarschieren, dann werden wir sie nach Kurdensitte empfangen. Wenn es sein muß, machen wir aus unserem Land einen Friedhof für die türkischen Aggressoren."

Foto: Demonstration der "Kurdischen Demokratischen Partei" gegen türkische Einmarschpläne im irakischen Arbil am 3. März: "Wenn die Türken ohne unsere Zustimmung einmarschieren, werden wir sie nach Kurdensitte empfangen"

 

Dr. Günther Deschner, Historiker und Publizist, war zehn Jahre Journalist bei der Tageszeitung "Die Welt". Er befaßt sich seit vielen Jahren mit den Ländern und Problemen des Nahen Ostens und vor allem mit den Kurden. Er hat ganz Kurdistan bereist, mit einfachen Menschen und mit Politikern gesprochen, mit Massud Barsani und Dschalal Talabani. Sein in mehreren Ausgaben und Auflagen erschienenes Standardwerk über die Kurden wird in einer aktuellen Ausgabe unter dem Titel "Die Kurden - das betrogene Volk" im Sommer bei Herbig erscheinen.


 
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