© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/03 21. Februar 2003

 
Das demographische Fenster öffnen
Uno-Bericht: Chancen auf weniger Bevölkerungswachstum und mehr Wirtschaftsentwicklung nutzen
Volker Kempf

"Nur reden hilft uns nicht weiter", sagt Alfred Biolek von zahlreichen Großplakaten herunter. Er wirbt um Spenden für die "Deutsche Stiftung Weltbevölkerung" (DSW), die eine Partnerorganisation des Weltbevölkerungsfonds UNFPA ist. Das ist die größte multilaterale Geberorganisation im Bereich der Bevölkerungsentwicklung; beide Organisationen haben bisher (seit 1969) mehr als sechs Milliarden US-Dollar für Bevölkerungsprogramme bereitgestellt.

Der Verwendungszweck, für den die Stiftung und die UNFPA ihr Geld verwenden, läßt sich in vier Punkten zu-sammen­fassen:

- Menschenwürdige Verlangsamung des Weltbevölkerungswachstums

- Stärkung der gesellschaftlichen Stellung von Frauen

- Verbesserung der Lebenschance von Jugendlichen sowie

- Begrenzung der Ausbreitung von HIV (Aids).

Mit der Formulierung von Zielvorgaben allein läßt sich allerdings nicht viel bewirken. Notwendig ist eine genaue Analyse dessen, welcher Einsatz etwas bringt oder auch nicht. Hierüber gibt der von der UNFPA und ihrer deutschen Partnerorganisation gemeinsam herausgegebene "Weltbevölkerungsbericht 2002" Aufschluß und dürfte auch die internationale Staatengemeinschaft interessieren, die sich allein im Jahr 2000 zur Bereitstellung von über 5,5 Milliarden Dollar Hilfeleistungen verpflichtet hatte - für das Jahr 2015 sind über 7,2 Milliarden Dollar zugesagt. Leider gibt der vorliegende Bericht, der Ende 2002 erschienen ist, keinen Aufschluß darüber, inwiefern diesen Versprechungen bisher auch entsprochen wurde.

Einleitend wird festgestellt, daß drei Milliarden Menschen mit zwei US-Dollar oder weniger pro Tag auskommen müßten. Für den kritischen Leser wirft dies allerdings die Frage auf, wie aussagekräftig das ist, weil das Leben in vielen Staaten vor allem auf Tauschwirtschaften und weniger auf Geldwirtschaften beruht. Wie also wird Armut gemessen? Im Hauptteil werden solche naheliegenden Fragen näher erörtert. Hier ist dann zu erfahren, daß die tatsächlichen Haushaltsausgaben ermittelt werden, um festzustellen, ob sie unter oder über einer gesetzten Marke liegen. Alternativ seien aber auch auf mehrere Indikatoren beruhende Ansätze gebräuchlich, als da wären:

- Langlebigkeit (Anteil derjenigen mit einer Lebenserwartung unter 40 Jahren).

- Bildung (Anteil der Analphabeten an der erwachsenen Gesamtbevölkerung).

- Wirtschaftliche Grundversorgung (ein zusammengesetzter Index, der den Anteil der Bevölkerung ohne Zugang zu sauberem Wasser, den Anteil der Bevölkerung ohne Zugang zu Gesundheitsdiensten und den Anteil der unterernährten Kinder unter fünf Jahren zusammenfaßt).

Sei die Entscheidung der Gewichtung der einzelnen Komponenten auch willkürlicher Natur, werde so doch ein genaueres Bild der real existierenden Armut gewonnen, weshalb sie auch an Bedeutung gewinne. Damit habe sich das Verständnis von Armut in den letzten Jahren gewandelt. Es würden auch vermehrt die Qualität von Regierung und Rechtsstaat, das Ausmaß von Korruption und Verbrechen sowie kulturelle und historische Faktoren berücksichtigt werden.

Vor allem aber sind es demographische Probleme, die Armut verursachen, so der Bericht. Die Bedeutung von Ausbeutungstheorien, wonach die Dritte Welt vor allem unter dem Großkapital leide, wird damit deutlich relativiert. Andernfalls hätten die "Tigerstaaten" keinen so großen Erfolg haben können.

Das Elend in der Welt hänge vor allem mit dem Bevölkerungswachstum ab den fünfziger Jahren zusammen. Dieses gehe auf einen rapiden Rückgang der Sterberate zurück, die die Einfuhr medizinischer und technologischer Innovationen (etwa in der Landwirtschaft) in Entwicklungsländer ausgelöst hätte. Denn Anpassungen an diese Errungenschaften hätten nicht stattgefunden. Es sei ein "Mißverhältnis" entstanden, "das den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt abbremst". Vor diesem Hintergrund gehe es darum, die Chance eines "demographischen Fensters" zu nutzen, wie das in unseren Breiten der Fall gewesen wäre, so daß sich Wohlstand entwickeln konnte.

Familien der Kinder müßten also kleiner werden als die ihrer Eltern. Das setze Familienplanung und Bildung voraus. Wenn eine relativ große Bevölkerungsgruppe im arbeitsfähigen Alter relativ wenig wirtschaftlich abhängige Kinder und Erwachsene versorgen müsse, würde Kapital frei werden und das Wirtschaftswachstum pro Kopf ansteigen. Dieses "demographische Fenster" öffne sich nur einmal. Denn sobald die geburtenstarken Jahrgänge aus dem produktiven Alter ausscheiden, nehme der Anteil der abhängigen Bevölkerung wieder zu. Der vielversprechende demographische Wandel bedinge nicht nur gut funktionierende Schulsysteme, sondern stabile Märkte, Institutionen und eine funktionierende Regierungspolitik. An diesen Faktoren sei anzusetzen. So werden von der UNFPA und der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung in zahlreichen Ländern Projekte unterstützt, die entsprechende Mängel beseitigen helfen sollen. Verhütungsmittel werden durch Aufklärung etwa in Radiosendern Afrikas propagiert. Damit soll auch Aids-Prävention stattfinden. Denn gerade in Afrika erkranken so viele junge Menschen an Aids, daß sie das "demographische Fenster" verkleinern.

Was Westeuropa betrifft, erwähnt der Bericht, daß eine Alterung ihrer Bevölkerung unumgänglich sei. Dabei wird postuliert, daß dies nicht notwendigerweise bedeuten müsse, daß die Zahl der wirtschaftlich Abhängigen zu einer Belastung werde. Wörtlich heißt es: "Im Gegenteil, der Anstieg der Zahl der Älteren, die länger als bisher im Arbeitsleben bleiben, und die vergleichsweise hohen Ersparnisse der älteren Generation in den Industrieländern sowie familiäre und öffentliche Unterstützungsleistungen könnten neue Märkte entstehen lassen und im Waren- und Dienstleistungssektor zu einer Verschiebung der Nachfrage führen." Damit könnten sogar positive Impulse für das Wirtschaftswachstum etwa in Deutschland ausgehen. Rationale Entscheidungen, nicht emotionale Debatten seien auf dem Gebiet der nötig gewordenen Bevölkerungs- und Sozialpolitik angebracht.

Der Bericht weist zahlreiche Querverweise zu anerkannten Studien aus und bewegt sich auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau. Was nicht behandelt wird, ist der mögliche Widerspruch zwischen den Wachstumsimpulsen für die Weltwirtschaft einerseits und der ebenfalls für nötig erachteten "nachhaltigen Entwicklung" andererseits, also der Schutz von natürlicher Umwelt und Ressourcen. Dabei wächst mit dem Wohlstand der immer mehr werdenden Single-Haushalte der Flächenanspruch pro Kopf wie auch absolut an. Das geht letztlich zu Lasten von Natur und Umwelt, sogar mehr als das weltweite Bevölkerungswachstum, wie eine veröffentlichte Studie der Michigan State University errechnet hat.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen