© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/03 14. Februar 2003

 
Ein Feuerwerk der Desinformation
Irak-Krise: Der Politologe Stephen Pelletière hält Habgier für den Hauptgrund eines Krieges am Golf / Zweifel am irakischen Giftgas-Mord an den Kurden
Michael Wiesberg

Stephen Pelletière, Professor für Fragen der nationalen Sicherheit am U.S. Army War College in Carlisle (US-Bundesstaat Pennsylvania) und ausgewiesener Spezialist für Fragen, die den Mittleren Osten betreffen, ist im Jahre 2001 mit einem Buch hervorgetreten, das eine intensive Rezeption auch in Deutschland verdient hätte. Dies gilt um so mehr vor dem Hintergrund der Vorbereitung eines möglichen Irak-Krieges durch die US-Regierung und die damit zusammenhängende Desinformationspolitik der USA. Diese wird in diesen Tagen von vielen Medien mit einer Effizienz umgesetzt, als hätte es, um nur ein Beispiel zu nennen, John R. MacArthur und seine Analyse "Die Schlacht der Lügen", die in der englischen Originalausgabe den bezeichnenden Untertitel "Zensur und Propaganda im Golfkrieg" (deutsche Ausgabe 1993) trägt, niemals gegeben. MacArthur deckte anhand zahlreicher Beispiele und Interviews die Kollaboration zwischen Militärs und Medien auf, die - und hier beginnen die Parallelen zur heutigen Situation - schon vor dem Krieg begonnen hatte und sich danach fortsetzte.

Um so wichtiger ist es, in Zeiten der "Desinformation durch Überinformation" auf seriöse und recherchierbare Quellen zurückgreifen zu können. Zu diesen Quellen gehört ohne Zweifel das Buch von Stephen Pelletière "Iraq and the International Oil System. Why America went to War in the Gulf" (Westport 2001). Pelletières zentrale These lautet, daß die US-amerikanische Nahostpolitik - zumindest bis zum 11. September 2001, wird man hier ergänzen müssen - auf Saudi-Arabien als Erdöl-Hauptlieferanten fixiert gewesen war. Im gleichen Maße unterstützte die USA eine Politik der doppelten Eindämmung ("dual containment") gegenüber dem Irak und dem Iran. Durch diese Politik sollten diese beiden Staaten davon abgehalten werden, Saudi-Arabien als Hauptlieferanten zu verdrängen. Weil die USA bei einer möglichen erfolgreichen Herausforderung Saudi-Arabiens durch den Irak bzw. Iran die Gefahr einer Destabilisierung der gesamten Region mutmaßten, unterstützten diese Saudi-Arabien und seine königliche Familie, obwohl dessen Regierungsstrukturen alles andere als "demokratisch" sind.

Diese Ignoranz der Saudis gegenüber "demokratischen Prinzipien" hat US-amerikanische Präsidenten, aber auch den US-Kongreß oder die US-Medien bisher nicht sonderlich interessiert. Um so häufiger ist aber davon die Rede, daß der Irak oder der Iran "repressive" bzw. "verbrecherische" Regime oder "Schurkenstaaten" seien.

Die Regierungen der USA, so diagnostiziert Pelletière, weigerten sich, der US-amerikanischen Öffentlichkeit ohne Wenn und Aber einzugestehen, daß diese mit Blick auf den Irak bzw. den Iran ausschließlich aus ökonomischen Gründen heraus handelten. Aufgrund dessen müßten der Iran und der Irak aus der Sicht der US-Regierung niedergehalten werden, damit der Ölpreis niedrig bleibe. Als Konsequenz seien die USA gezwungen, eine Politik der fortgesetzten massiven Täuschung zu verfolgen. Diese Täuschung basiere auf der Behauptung von US-Regierungskreisen, daß mit dem gegenwärtigen hohen Ressourcenverbrauch eine Entwicklung verbunden sei, die die Voraussetzungen für eine besseres Leben aller Menschen in dieser Region schaffe. Darin eingeschlossen seien, so Pelletière, auch diejenigen, die von der US-Politik bisher am meisten unterdrückt worden seien: nämlich der Irak und der Iran.

Nach dem 11. September 2001, so wird man Pelletières Thesen fortschreiben dürfen, hat augenscheinlich ein Abrücken von der Doktrin des "Dual Containment" eingesetzt, die sich wohl hauptsächlich der Unsicherheit der USA im Hinblick auf Saudi-Arabien verdanken dürfte. Wie berechtigt diese Unsicherheit ist, zeigte jüngst eine Meldung der New York Times, die unter Berufung auf saudiarabische Regierungskreise berichtete, daß der saudische Kronprinz Abdullah US-Präsident George W. Bush auffordern werde, die US-Truppen aus Saudi-Arabien abzuziehen, sobald die von den USA betriebene Entwaffnung des Irak abgeschlossen sei.

Auch andere Erdölstaaten werden unterdrückt

Die USA sind freilich bereits seit längerem bestrebt, die Abhängigkeit von den Saudis zumindest zu lockern. Zu schwer wiegt der Befund, daß ein Großteil der Attentäter vom 11. September 2001 aus Saudi-Arabien stammte. Dieser US-amerikanische Paradigmenwechsel zeichnete sich freilich bereits vor dem 11. September ab und hat unmittelbare Konsequenzen für den Irak. Anfang des Jahres 2000, also noch bevor sich die Regierung Bush konstituiert hatte, stellte Condoleeza Rice, die heutige Sicherheitsberaterin von US-Präsident George W. Bush, in einem Beitrag für das regierungsnahe Periodikum Foreign Affairs (Januar-Februar 2000) fest: "Das Regime von Saddam Hussein ist isoliert, die Effektivität seiner konventionellen Waffen ist deutlich geschwächt, sein Volk lebt in Armut und in Terror, und er hat keine nutzbringende Position in der internationalen Politik." Saddam sei deshalb gezwungen, Massenvernichtungswaffen zu entwickeln. Es werde sich solange nichts ändern, bis Saddam Geschichte sei, schreibt Rice ("Nothing will change until Saddam is gone."). Die USA müßten deshalb alle verfügbaren Ressourcen mobilisieren, eingeschlossen der Unterstützung der Gegner Saddams, um diesen loszuwerden.

Pelletière streicht heraus, daß nicht nur der Irak und der Iran unterdrückt würden, sondern auch Algerien, Venezuela, Indonesien und Nigeria. Dieser Befund steht in scharfem Gegensatz zu aktuellen Stimmen, die den Hinweis auf die US-Erdölinteressen im Hinblick auf den Irak als antiamerikanisches "Märchen" zu denunzieren versuchen. Diese Interessen sind freilich keine aufgebauschte antiamerikanische Propaganda, sondern der entscheidende Beweggrund der Regierung Bush.

Doch Pelletière geht noch einen Schritt weiter, wenn er im Hinblick auf die Funktionsweisen des internationalen Erdölsystems feststellt: "Das internationale Öl-System wurde in der Absicht installiert, ein Verbrauchsgut, nämlich das Erdöl, kontrollieren zu wollen. Im Laufe der Zeit - und nicht zuletzt unter Einfluß der USA - hat sich dieses System mehr in ein Instrument zur Beherrschung der Völker entwickelt."

Dieses System erstreckt sich keineswegs nur auf den Mittleren Osten. In dem Kapitel "The African Pipeline Scheme" beschreibt Pelletière kurz die amerikanische Unterstützung der 3,7 Milliarden Dollar-Öl-Pipeline zwischen dem Tschad und Kamerun, die mit Mitteln der Weltbank finanziert wird. Ein Konsortium aus den Erdölkonzernen Esso, Chevron und der malaysischen Erdölfirma Petronas bereitet derzeit die Ausbeutung großer Erdölvorkommen im Süden des Tschads vor. Diese Ölkonzerne werden im Sahelstaat Tschad Erdöl fördern und eine Pipeline 1.000 Kilometer quer durch Kamerun bauen. Im Sommer 2000 begannen die Bau- und Bohrarbeiten, irgendwann in diesem Jahr soll das Erdöl fließen. Die Weltbank hat im Juni 2000 mit Zustimmung der deutschen Bundesregierung Kredite im Wert von vier Milliarden Dollar für das umstrittene Tschad-Kamerun Ölprojekt genehmigt.

Washington versucht den Gewinn, der den afrikanischen Staaten aus dem Ölhandel zufließen wird, an Bedingungen zu knüpfen und Vereinbarungen darüber zu treffen, wie das Geld aus dem Ölgeschäft zu verwenden ist. Eine Regierung aber, so schlußfolgert Pelletière, die keine Kontrolle über diejenigen Gewinne habe, die aus ihrer wichtigsten Ressource stammten, könne nicht anders als ein "Protektorat" bezeichnet werden.

Saddam Hussein zeigte Symptome einer Paranoia

Kommen wir auf die Rolle zu sprechen, die Israel im Hinblick auf den Iran und den Irak einnimmt. Nach dem Ende des iranisch-irakischen Krieges (1980-1988), der beide Staaten Milliarden an Dollar kostete, die eigentlich in die weitere Entwicklung beider Staaten hätten investiert werden sollen, sah sich Saddam Hussein gezwungen, neue Kredite aufzunehmen. Die Kuwaitis hatten sich geweigert, an diesem Krieg teilzunehmen, obwohl eine irakische Niederlage auch drastische Konsequenzen für den Kuwait gehabt hätte. "Die scharfen (antiirakischen, d.V.) Schlagzeilen in den US-Medien", so kommentiert Pelletière, "und die TV-Gelehrten, die den Irak angeblicher Verfehlungen bezichtigten - alles dies hatte auf die Banken einen einschüchternden Effekt, die keine Kredite für Saddam mehr bereitstellen wollten. In dieser Zeit begann Saddam Hussein, der permanent unter einem massiven Druck stand, Zeichen einer wirklichen Paranoia zu zeigen." Diese Paranoia muß nach Pelletière auch im Zusammenhang mit der Ankündigung der Israelis gesehen werden, einen Spionagesatelliten installieren zu wollen, der Israel in die Lage versetzten sollte, nachrichtendienstlich relevante Daten über den Irak zu sammeln. Israelische Regierungsmitglieder wiesen in diesem Zusammenhang darauf hin, daß sie insbesondere an den irakischen Waffenfabriken interessiert seien. Saddam kündigte daraufhin an, falls die Israelis den Irak noch einmal attackieren sollten, werde er halb Israel einäschern. Saddam bezog sich mit dieser Äußerung auf den israelischen "Präventivschlag" auf den irakischen Atomreaktor "Osiris" im Jahre 1981, der vollkommen zerstört worden war.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Ausführungen Pelletières zum Thema Giftgas beziehungsweise zur Behauptung der US-Regierung, Saddam Hussein habe Giftgas gegen sein eigenes Volk eingesetzt: "Der erste Giftgas-Einsatz, der bekannt geworden ist, vollzog sich bei Haj Umran im Jahre 1983", schreibt Pelletière. Zu diesem Zeitpunkt drangen die Iraner, in Kooperation mit den dort ansässigen Kurden, in die nördlichen Regionen des Iraks ein. Die Iraker benutzten Gas, um die Iraner zu vertreiben. Dieser Versuch kam einem Fiasko gleich: "Die Iraker brachten das Gas auf den Bergspitzen aus, die von den Kurden und Iranern gehalten wurden. Das Gas senkte sich aber in die Täler, wo die irakischen Truppen in Stellung gegangen waren und verursachte dort eine nachhaltige Desorientierung des irakischen Gegenangriffes." Der Irak gab den Einsatz von Giftgas am 2. Juli 1998 öffentlich zu. Der heutige Stellvertreter Saddams, Tarek Aziz erklärte, jede Nation habe das Recht, zum Zwecke ihrer Verteidigung diejenigen Waffen zu wählen, die sie für notwendig halte. Der Irak verwies allerdings darauf, daß der Iran diese Waffen in den Krieg eingeführt habe.

Völlig anders wird dieser Vorgang in den US- oder europäischen Medien dargestellt. In der Regel wird dort behauptet, Saddam habe Tausende seiner Landsleute vorsätzlich mit Giftgas überzogen. In diesem Zusammenhang wird immer wieder die kurdische Stadt Halabdscha in der Nähe von Bagdad, wo im März 1988 sowohl der Iran als auch der Irak Giftgas einsetzten, als Beleg angeführt. Je nach Sichtweise werden Saddam bis heute bis zu 10.000 tote Kurden angelastet. So schreibt Kenneth Pollack, Nahostexperte und ehemaliger Berater der Regierung Clinton, in der Ausgabe 6/03 des Spiegel mit Blick auf die Ereignisse in Halabdscha: "Am 16. März 1988 unternahm Ali Hassan (der Cousin Saddams, d.V.) seinen berüchtigten Überfall auf die kurdische Stadt Halabdscha. Er setzte verschiedene chemische Kampfstoffe ein und tötete mindestens 5.000 kurdische Zivilisten."

1988 haben sowohl Iran als auch Irak Giftgas eingesetzt

Pelletière macht darauf aufmerksam, daß sowohl die Iraner als auch die Irakis Giftgas einsetzten, nachdem es den Iranern gelungen war, zunächst unbemerkt in die kurdische Stadt einzusickern. Die Kurden gerieten bei der irakischen Gegenoffensive zwischen die Fronten. Als sich die Iraner schließlich zurückziehen mußten, machten sie eine Reihe von Fotos von den durch Giftgas umgekommenen toten kurdischen Zivilisten, mit denen sie die Iraker belasteten und behaupteten, selbst kein Giftgas eingesetzt zu haben. Die Symptome allerdings, die die toten Kurden aufwiesen (bläulich verfärbte Extremitäten), verwiesen nach Pelletière auf ein Gas, das nicht von den Irakern eingesetzt worden sei. Es hätte zu dieser Zeit, so ergänzt Pelletière, auch gar nicht im Irak produziert werden können, weil dazu die Kapazitäten fehlten. Entscheidend sind nun folgende Sätze Pelletières: Selbst die US-Regierung bestätigte später, daß beide Seiten Gas eingesetzt hätten und unterstrich, daß die Kurden aller Wahrscheinlichkeit nach durch das iranische Giftgas umgekommen seien. Diese Information sei freilich erst 1990 verbreitet worden, so daß sich der Eindruck festsetzen konnte, daß die Irakis die Kurden mit Giftgas ermordet hätten. Pelletière, dies sei an dieser Stelle ergänzt, hat diese Sicht der Dinge am 31. Januar in einer Kolumne für die New York Times nochmals bekräftigt.

"Zehn Jahre nach dem Ende des Golfkrieges fährt das U.S. State Department fort", so resümiert Pelletière, "eine Politik gegenüber dem Irak zu verfolgen, die auf dem Bild einer kriminellen Gesellschaft aufbaut. Dieses Bild entspricht nicht der Wirklichkeit." Dessen ungeachtet dürfte der Irak erneut das Ziel einer amerikanischen Aggression werden. Pelletière bezeichnet eine Aggression, wie sie die USA mit Blick auf den Irak betreiben, als "ökonomischen Krieg". Es geht der US-Regierung unter Georgs W. Bush um nackte ökonomische Interessen. Habgier freilich eignet sich nicht besonders gut für die mediale Kommunikation. Also muß diese Habgier entsprechend "verpackt" werden. So wird die Beseitigung Saddam Husseins unter der Hand zu einem Dienst, den die USA dem Wohle der "Menschheit" erweisen wollen. Bereits der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt wußte, was von einer derartigen Propaganda zu halten ist: "Wer Menschheit sagt, der will betrügen."


 
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