© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/03 07. Februar 2003

 
Schluß mit der Kinderverwahrung
Sachsen-Anhalt: Trotz großer Proteste will die Regierung Krippenplätze für Kinder an die Berufstätigkeit der Eltern knüpfen
Ellen Kositza

Sachsen-Anhalt durfte soeben die vielzitierte "Rote Laterne" in der Arbeitslosenstatistik an Mecklenburg-Vorpommern abgeben, und auch der Sparkurs, den Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) seit seinem Amtsantritt September letzten Jahres fährt, ist beachtlich. Gerade im sozialen Bereich sollen Einsparungen greifen. So will Böhmer nun mit einer reformierten Kinderbetreuungspolitik 45 Millionen Euro im Vergleich zum Vorjahr einsparen: Ein Vorhaben, daß in den vergangenen zwei Wochen täglich für Schlagzeilen im Bundesland sorgte. Der von der Koalition aus CDU/FDP Ende 2002 vorgelegte Gesetzesentwurf sah vor, den bis dahin geltenden Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz an die Berufstätigkeit der Eltern zu knüpfen: Während der Ganztagesanspruch von Kindern ab drei Jahren in allen Fällen unangetastet bleiben sollte, sollten Kinder arbeitsloser Eltern einen Krippenplatz von Geburt an nur in begründeten Ausnahmefällen erhalten. Mitte Januar stellten diesem Plan die oppositionellen Sozialdemokraten einen Gegenentwurf vor, der für Säuglinge und Kleinstkinder auch arbeitsloser Eltern ein Recht auf einen Halbtagsplatz vorsah. Daraufhin senkte die Regierungskoalition das Kindesalter, das einen Halbtagsplatzanspruch gewähren soll, auf zwei Jahre, allein, das Volk zwischen Arendsee und Zeitz stand auf: Arbeitslose würden diskriminiert, deren Kinder benachteiligt, und was, wenn eine Arbeitsstelle kurzfristig in Aussicht stünde, aber kein Krippenplatz vorhanden sei?

Während im Westen selbst für berufstätige Eltern die Suche nach einem Krippenplatz so gut wie aussichtslos ist, wird die halbtägige Versorgung von Kleinstkindern erwerbsloser Eltern in Sachsen-Anhalt als infame Zumutung betrachtet, man pocht auf "gute alte DDR-Tradition". Wer wenig hat, dann wenigstens dies: So wird von dem bislang bestehenden Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ab Geburt des Kindes als einem "Standortvorteil" für Sachsen-Anhalt gesprochen. Auf einer Demonstration eines Bündnisses von Gewerkschaft, PDS und der Initiative "Für ein kinder- und jugendfreundliches Sachsen-Anhalt" in Magdeburg warf Verdi-Chef Jürgen Schenk vor rund 3000 Protestlern der Landesregierung ein "Wegrasieren sozialer Standards mit der Kettensäge" vor. Die PDS sieht die betroffenen Kinder "doppelt" bestraft, zum einen durch die Arbeitslosigkeit der Eltern, zum anderen in der "Kindertrennung", will heißen, durch das mittägliche Abholen aus der Betreuungsstätte. "Auseinandergerissen" würden die Kita-Gruppen dadurch, dramatisierte auch Verdi-Sprecher Helge Harms - als seien unterschiedliche Abholzeiten nicht ohnehin die Regel in Kindergärten mit ganztägiger Betreuung.

Eltern des Kreises Bernburg spannten die Betroffenen selbst für den aufgeregten Protest ein, "Mit uns nicht!" und ähnliche Parolen wurden auf Kinderhemden gemalt und - in Analogie zur "Mein-letztes-Hemd-für-Schröder-Aktion" an Sozialminister Gerry Kley geschickt. Derart unter Druck geraten, adaptierten Ende Januar nun CDU und FDP beinahe vollständig das SPD-Konzept, kippten die Altersgrenze von zwei Jahren und wollen nun das Recht auf halbtägige Betreuung von Geburt an auch für Kinder Arbeitsloser festschreiben.

Allein die SED-Nachfolger stemmen sich gegen den Kompromiß und fordern weiterhin Ganztagsplätze ab Geburt auch für den Nachwuchs nichterwerbstätiger Eltern. Mit einer Klage vor dem Verfassungsgericht droht die PDS, weil nach ihrer Ansicht das Gesetz der Landesregierung zu viel Einflußmöglichkeit gegenüber dem Parlament einräume.

Im Gegenzug hatten der Deutsche Familienverband und die katholische Kirche als Trägerin von rund 30 Kindergärten in Sachsen-Anhalt das ursprüngliche Konzept der Koalition unterstützt. Der Entwurf sei keine Bestrafung arbeitsloser Eltern, sondern ein Impuls für die Eigenwahrnehmung von Verantwortung, hieß es aus dem katholischen Büro in Magdeburg. Freilich ist Kindergartenbetreuung im Osten der Republik noch längst etwas anderes als die im Westen, zumindest die in städtischen und evangelischen Tagesstätten allenthalben praktizierte Früherziehung, die diesen Namen kaum verdient. Dominiert in den Altländern die "offene Gruppe" mit oft ganztags "freiem", will heißen unangeleitetem Spiel und sind die Kindergärten häufig zu bloßen Verwahranstalten verkommen, sind in Mitteldeutschland diese Ergebnisse real praktizierter Modepädagogik weitgehend noch nicht angekommen. Jana und Ursel heißen hier noch Tante, Stuhlkreis ist Stuhlkreis, handfeste Konflikte lösen die Erzieher statt der Kinder selbst, und gegessen wird mit dem Löffel statt mit ungewaschenen Händen.

Es bleibt die oft gestellte und schwer zu beantwortende Frage, ob ein guter Kindergarten die häusliche Erziehung ersetzen kann, oder, andersherum, ob eine immerhin mittelmäßige Fremdbetreuung nicht besser ist als ein Tag vor dem Fernseher im elterlichen Wohnzimmer.


 
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