© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/03 24. Januar 2003

 
Islamisierung als Perspektive
Irak-Reportage: Ein JF-Autor bemerkt im sanktionsgebeutelten Volk eine zunehmende Besinnung auf den Islam /Teil II
Peter Lattas

Sichtbarer Ausdruck der auf Europa gerichteten irakischen Ambitionen ist die Umstellung des irakischen Ölgeschäfts auf den Euro als Abrechnungswährung Mitte 2001 - für die noch junge Einheitswährung immerhin ein Nachfrageschub von einigen Milliarden jährlich. Über den mangelnden Erfolg des auf Europa und insbesondere auf Deutschland gerichteten Werbens ist man gleichwohl enttäuscht. Durch den Zick-Zack-Kurs der Bundesregierung setzt Deutschland sich so zwischen alle Stühle: Für die amerikanisch-britische Kriegspartei wären die Deutschen auch als Umfaller unsichere Kantonisten, in der arabischen Welt aber hätte Deutschland damit viel Kredit verspielt.

Die Wiederzulassung der Waffeninspektoren zeigte, wie sehr die Führung in Bagdad mit dem Rücken zur Wand steht. Bisher war es Bagdader Standpunkt, eine Rückkehr der Waffeninspektoren würde den amerikanischen Angriff nur verzögern, nicht verhindern; es wäre töricht, meinte etwa Vize-Premier und Ex-Außenminister Tariq Aziz, sie wieder ins Land zu lassen, um ebenso wie 1998 sensible irakische Ziele für künftige Bombardements auszuspähen. Da es nicht gelungen sei, eine Verbindung des Irak zu al-Qaida und den Taliban zu konstruieren, benutze man jetzt angebliche irakische Massenvernichtungswaffen und die Forderung nach Rückkehr der Inspektoren als Vorwand.

Außenminister Nadji Sabri, ein gewandter Mann, der sechsundzwanzig Monate Botschafter in Wien war und Maßanzug statt Drillich trägt, war noch im Frühjahr 2002 mit der Verhandlungsposition in die Gespräche mit der UNO gegangen, Irak habe seine Abrüstungsverpflichtungen erfüllt, nun sei es an der Völkergemeinschaft, zunächst die Sanktionen aufzuheben. Resolution 687 schreibe vor, die Sanktionen müßten in dem Maße gelockert werden, wie die Inspektion und Vernichtung der irakischen Massenvernichtungswaffen voranschreite. Irak habe keine atomaren und biologischen Waffen besessen, lediglich chemische, die bis 1994 vollständig vernichtet worden seien. Seither sei nichts gefunden worden; der Chef der Inspektoren, Ekeus, habe schon 1996 erklärt, die Aufgabe sei zu 95 Prozent erfüllt.

Tatsächlich haben die UNO-Kontrolleure auch nach Wiederaufnahme der Inspektionen trotz zahlreicher ungeklärter Fragen keine Beweise für die behauptete Existenz von Massenvernichtungswaffen gefunden. Gern verweist man in Bagdad auf Artikel 14 der Resolution 687, demzufolge die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen im gesamten Nahen und Mittleren Osten unterbunden werden solle. Der Irak, sagt Sabri, sei im Gegensatz zu anderen Staaten dazu bereit. Israel habe derzeit das größte Arsenal an Massenvernichtungswaffen in der gesamten Region.

Der Kern des Konflikts ist nach Auffassung Sabris, daß Israel mit amerikanischer Hilfe die ganze Region dominieren wolle. Das Vorgehen Israels in den besetzten Gebieten ist für den Irak in der Tat eine Steilvorlage. Kaum zufällig stellt sich Saddam Hussein derzeit bevorzugt als Beschützer der Palästinenser dar. Arafat durfte auch in den magersten Embargo-Jahren stets auf Subsidien aus Bagdad rechnen. Ein Plakat, das den mit Jagdgewehr posierenden Präsidenten vor dem Jerusalemer Felsendom und vermummten Intifada-Kämpfern zeigt, hat Konjunktur an den Straßen und in den Amtsstuben. Die Hoffnung, Amerika würde vom Zündeln in der arabischen Welt absehen, solange das Pulverfaß Nahost nicht entschärft wäre, hat sich freilich nicht erfüllt.

In schweren Zeiten bietet die Religion den Menschen Trost

Entsprechend fatalistisch sieht die Mehrzahl der Iraker dem als unvermeidlich angesehenen nächsten Militärschlag der USA entgegen. Von Kriegsfurcht ist auf den Straßen und Basaren indes kaum etwas zu spüren. Erst auf Nachfragen geben die einfachen Leute, Hotelangestellte, Basarhändler, ihre Angst vor neuen Bomben zu. Die sichtbaren Narben des Krieges wurden zwar geschlossen, die unsichtbaren aber schmerzen noch unter der Fassade der Gelassenheit.

Entisar Ahmed weiß davon ein Lied zu singen, und sie tut es täglich mehrmals, seit vielen Jahren schon. Die junge Frau aus dem altehrwürdigen Samarra führt Besucher durch den Bunker im Stadtteil Al-Amiriya, der am 13. Februar 1991 von einem amerikanischen Flugkörper zerstört wurde. Über vierhundert Menschen, Zivilpersonen, Frauen und Kinder, seien dabei ums Leben gekommen, erzählt Entisar, nur vierzehn hätten überlebt. Mit dramatischer Geste zeigt sie, wo Kinder in ihren Betten verbrannt seien, wo man die Silhouetten der Körper noch erkennen könne.

Dieser Besuch ist ebenfalls Pflichtprogramm - nicht nur für die raren ausländischen Gäste, sondern auch für Iraker aus dem ganzen Land. Zweihundert Gruppen kämen jeden Monat, anfangs seien es bis zu tausend gewesen. Der Bunker ist zur Kultstätte geworden. Der deutsche Besucher mag bei diesem "Kollateralschaden" an Dresden denken, dessen Zerstörung sich am selben Datum jährt. Natürlich habe sie Angst vor neuen Bomben, bekennt Entisar - "you can imagine".

"Bush is criminal", steht unter dem fratzenhaft verzerrten Porträt des Vaters des US-Präsidenten. Wer das Nobelhotel "Al Raschid" betritt, muß dem buntmarmorn in den Fußboden eingelassenen Altpräsidenten ins Gesicht treten. Den Sohn wird das kaum beeindrucken, und die einfachen Leute haben andere Sorgen. Antiamerikanismus sucht man im irakischen Alltag vergebens. Der Dollar ist allgegenwärtig, Englisch ist zweite Geschäftssprache, und auch in Bagdad trinken junge Leute Cola, tragen Jeans und hören amerikanische Musik, während Austräger im "Mickey Mouse"-Kostüm vor dem Schicki-Lokal "Talk of the Town" Werbezettel verteilen.

Dennoch ist der Irak, der unter den arabischen Ländern bislang einen eher weltlichen Ruf genoß, seit dem letzten Golfkrieg islamischer geworden. Dafür steht nicht nur der Schriftzug "Allahu akbar", der der Nationalflagge hinzugefügt wurde. Ist der Islamismus auf dem Vormarsch? Saadoun Hammadi, Präsident des irakischen Parlaments, wiegelt ab: In schweren Zeiten suchten die Menschen nun einmal Trost in der Religion, deswegen seien sie aber nicht fanatischer als etwa zehn Jahre zuvor. Umgekehrt erinnere ihn die islamfeindliche Tendenz des amerikanischen Anti-Terror-Kriegs an die McCarthy-Ära, die er als Schüler in Wisconsin selbst miterlebt habe.

Fakt ist dennoch: Auch im sunnitischen Zentrum des Landes ist die Zahl der Kopftuchträgerinnen größer geworden (die Frauen in den schiitischen Randbezirken Bagdads und in den Schiiten-Gebieten des Südens tragen ohnedies den schwarzen Tschador), Moscheen und islamische Einrichtungen erfreuen sich großzügiger Zuwendungen, und seit 1994 ist der Genuß von Alkohol in der Öffentlichkeit verboten. Nur eine Handvoll Restaurants im Nobelviertel al-Asarat machen für vertrauenswürdige Kunden eine Ausnahme, die schon mal ein Bierchen in der Kaffeetasse getarnt bekommen.

Wer etwas gegen Saddam hat, ist im Ausland oder tot

Kenner des Landes mutmaßen freilich, die Maßnahme sei nicht nur zum Wohlgefallen der islamischen Geistlichkeit verhängt worden, sondern auch, um Unzufriedenheit und subversive Reden von der Straße zu verbannen. Nur mit drakonischem Durchgreifen konnte das Regime die anarchischen Zustände unmittelbar nach dem Golf­krieg in den Griff bekommen, als desertierte Soldaten räubernd durchs Land zogen und aufständische Schiiten die besseren Viertel plünderten. Militärisch mag der Irak durch Krieg und Demilitarisierung unter internationaler Aufsicht geschwächt sein; Sicherheitsapparat und Geheimpolizei sind indes nach wie vor eine äußerst effektive Stütze Saddam Husseins und seiner Regierung - zumal die DDR-Staatssicherheit beim Aufbau seinerzeit tatkräftig Entwicklungshilfe geleistet hatte und dem Vernehmen nach etliche ihrer Mitarbeiter nach der Wende Asyl im Zweistromland gefunden haben.

Widerstand gegen das Regime wurde gründlich ausgemerzt; wer etwas gegen Saddam hat, ist entweder im Ausland oder tot. Als Konsequenz gibt es im Land selbst keine Opposition, die den Namen verdient; die zahllosen Emigrantengruppen, die sich in London und anderswo den Westmächten andienen, gelten Beobachtern der Szene als weitgehend einflußlos. Eine "Nordallianz" à la Afghanistan ist für die US-Strategie noch immer nicht in Sicht. Von den einander jagenden Konferenzen irakischer Exilpolitiker, die über Szenarien nach dem Sturz Saddams oder mögliche Konstellationen einer Exilregierung beraten, ist man in Bagdad kaum beeindruckt.

Träte Amerika mit oder ohne Verbündete tatsächlich in einem Feldzug zum Sturz Präsident Husseins an, wären die Folgen kaum absehbar. In Bagdad vertraut man darauf, daß in einem solchen Falle Amerika keine Unterstützung in der arabischen Welt finden würde, daß wichtige Alliierte wie Saudi-Arabien unter großen inneren Druck geraten und wegbrechen würden. Auch die Türkei bete wegen ihrer eigenen Kurdenprobleme täglich, daß es nicht zum Krieg komme, analysiert man in Bagdader Regierungskreisen.

Denkbar ist ferner, daß die jeder Zentralregierung mißtrauenden Schiitenstämme im Süden und die de facto seit Jahren der Bagdader Kontrolle entzogenen Kurdenprovinzen im Norden sich bei einer westlichen Offensive ganz loslösen würden. Der Sturz Saddam Husseins wäre so nur um den Preis eines Auseinanderbrechens des Irak zu haben. Müßte Amerika dann die Ölfelder direkt besetzen, statt einen berechenbareren neuen Diktator einzusetzen? Die irakische Führung ist überzeugt, daß dies das eigentliche Ziel der Amerikaner sei.

Diese Auffassung scheint inzwischen zur communis opinio auch bei westlichen Experten zu werden. Die Folge wäre in jedem Fall eine kostspielige Besetzung des ganzen Landes auf Jahre und Jahrzehnte, die angesichts der zu erwartenden Anarchie der auseinanderstrebenden Völker, Volksgruppen und Stämme eher in die Destabilisierung der gesamten Region als in die Herstellung gesicherter und für den Westen berechenbarer Verhältnisse führen dürfte. George Bush senior hatte 1991 diesen Schritt, der einem Rückfall in den Imperialismus des 19. Jahrhunderts und einer Abkehr vom effektiven Prinzip der indirekten Beherrschung gleichkäme, wohlweislich vermieden.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen