© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/03 03. Januar 2003

 
Pankraz,
P. Bourdieu und die Frage nach dem Milieu

Kürzlich hörte Pankraz der Diskussion einer Gruppe von altmarxistischen Jungsozialisten zu, und da wimmelte es zu seinem Erstaunen von Vokabeln wie "Klasse", "Klassenstandpunkt", "Klassenkampf" usw. Die Jungen, von denen sich einige als Schüler des jüngst verstorbenen französischen Soziologen Pierre Bourdieu bezeichneten, glaubten allen Ernstes noch, mit solchen Vokabeln realistische Sozialmodelle erstellen zu können. Die Frage, ob Globalisierung, ja oder nein, war für sie "letztlich eine Klassenfrage", die Aktionen der Amerikaner gegen die Taliban in Afghanistan verurteilten sie als einen "Anschlag der herrschenden Klasse der USA auf den Weltfrieden".

Die Leute sollten vielleicht weniger Bourdieu und dafür mehr Auguste Comte lesen. Dieser Urvater der Soziologie, der überhaupt erst einmal das Wort erfand und dessen epochales Werk "Die Soziologie" vor genau hundertfünfzig Jahren erschien, lehnte den damals aufkommenden Begriff der "sozialen Klasse" ausdrücklich ab. "Klasse" war für ihn Steuerklasse und nichts weiter. Als treffende, erfolgreich weiterführende Kategorie zur Kennzeichnung homogener und zeitlich einigermaßen beständiger sozialer Gruppen bot er das Wort "Milieu" an, das ursprünglich nichts weiter als "Mitte" bedeutete, allenfalls noch "Umwelt", "Umgebung".

Heute zeigt sich, wie richtig Comte gelegen hat. Das Wort "Milieu" ist wirklich sehr gut geeignet, die Schachzüge und Kämpfe der Völker, Stämme, Cliquen, Banden, Generationen auf einen operablen gemeinsamen Begriff zu bringen. Und daran ändert auch nichts, daß "Milieu" später zeitweise einen etwas fatalen Beigeschmack bekam, als man es in polemischer Absicht gegen die Biologie und gegen die Individualkunde in Stellung brachte.

Man sprach da (maliziös oder begeistert) von der "Milieutheorie" und unterstellte ihr, daß sie den einzelnen von oben bis unten auf ein bestimmtes, auf "sein" Milieu reduziere. Weder individuelle Erfahrung noch Sprache sollten eine Rolle spielen, alles war statt dessen festgelegt und vorgeprägt durch das "Milieu", in das sich jedermann hineingestellt sah. "Milieu" wurde so etwas wie "Kismet", wie Lebensfahrplan, den Allah höchstpersönlich ausgearbeitet hatte und gegen den zu rebellieren nicht nur ruchlos, sondern auch vollkommen vergeblich war.

Nichts von solchem Radikalismus findet sich bei Comte oder liegt notwendig eingepuppt in der bloßen Kategorie "Milieu". Diese ist, im Gegensatz zum marxistischen Klassenbegriff oder zum biologistischen Rassebegriff, gerade kein "objektives", durch den Gang der Weltgeschichte angeblich vorgegebenes soziales Schubfach, gerade kein Besitzkennzeichen, wie man es Ochsen in die Flanken brennt. "Milieu" determiniert den einzelnen nicht bis auf den Grund seiner Existenz, es läßt einen Freiraum, der einzelne ist durch das Milieu herausgefordert und muß mit ihm rechnen, aber er kann die Milieus wechseln, er entwächst ihnen auch (man denke an die spezifischen Milieus der sich ablösenden Generationen) oder wächst in sie hinein.

Man könnte einwenden, daß ein so "weicher", nach vielen Seiten offener Begriff wie "Milieu" keinen wissenschaftlichen Biß hat und daß er deshalb für Debatten ungeeignet ist. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wer bei der soziologischen Analyse einer wahrnehmbaren sozialen Formation nicht von vornherein mit Scheuklappen antritt, wer also "nur" den jeweiligen Ort und die jeweilige Umgebung der Gruppe, eben ihr "Milieu", ins Auge faßt, es wahrhaft "berechnet", der wird noch am ehesten in Worte fassen können, welche (historischen und aktuellen) Antriebe die Gruppe beflügeln, welchen Korpsgeist und welche Eigenheiten ihre Mitglieder entwickeln, wie sie sich möglicherweise in Zukunft verhalten werden und wie man mit ihnen umgehen sollte.

Allein eine im genauen Sinne des Wortes "milieugerechte" Soziologie hat die Chance, für politische, kulturelle oder ökonomische Akteure in sinnvoller Weise beratend tätig zu werden. Hier gibt es Lehren der jüngeren Vergangenheit, die eine eindeutige Sprache sprechen. Man denke etwa an die erbärmliche Rolle, die der Marxismus ("die einzige wissenschaftliche Weltanschauung", wie er sich selbst gern nannte und ortsweise immer noch nennt) gerade in konsultativer Hinsicht gespielt hat. Seine Ratschläge waren stets reines Irrenhaus. Wer auf ihn hörte, schnitt sich immer nur ins eigene Fleisch.

Doch auch jene Lehren, die sich allzu hochgemut auf unbezweifelbare Realien wie Volks- oder Stammeszugehörigkeit verließen und glaubten, darüber den Einfluß eher diffuser, oft sich gegenseitig überlappender Binnenmilieus vernachlässigen zu dürfen, haben manches Unheil angerichtet und mußten Lehrgeld zahlen. Es kam heraus, daß "Soziologie" qua Milieukunde durchaus Sinn macht, sehr guten Sinn sogar.

Das menschliche Zusammenleben wird eben nicht nur durch den Willen einiger Großtäter oder durch das Wirken einiger weniger, holzschnitthaft heraushebbarer anthropologischer Grundkräfte bestimmt, sondern auch und nicht minder durch das Auftauchen und Wiederverschwinden sozialer Milieus, die den Willen und das Tun des einzelnen beträchtlich und dauerhaft beeinflussen und den Lauf der Geschichte mitgestalten. Diese Milieus zu erforschen, erfordert zwar keine Mathematik, aber Feinarbeit, Arbeit mit der Radiernadel, man muß sich optimale Methoden des Vorgehens ausdenken und auch vor gelegentlichen Revisionen des eigenen Standpunkts nicht zurückschrecken.

Daß die eingangs beschriebenen Jungsozialisten eine Revision nötig haben, dürfte feststehen. Sie sollten, bevor sie sich auf die großen Weltläufe einlassen, zunächst einmal ihr eigenes Binnenmilieu etwas genauer unter die Lupe nehmen. Solche Arbeit kann sogar Freude machen, mehr als Sterben in Afghanistan oder demnächst vielleicht im Irak.


 
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