© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/02 20. Dezember 2002 / 01/03 27. Dezember 2002

 
CD: Klassik
Geisterhaft
Jens Knorr

Als Clara Schumann, geborene Wieck, nach dem Tode ihres Mannes Robert dessen Werke herausgibt, unterschlägt sie eine ganz merkwürdige Komposition, Variationen in Es-Dur, sein letztes Werk überhaupt, ihr gewidmet. Er habe die Melodie in der Nacht des 17. Februar 1854 von einem Engel erhalten oder in der Nacht des 24. Februar von Franz Schubert persönlich. Um die Mittagszeit des 27. Februar bricht Schumann die Arbeit an den Variationen ab und stürzt sich in den Rhein. Eine Menschenmenge in Karnevalskostümen geleitet ihn nach Hause. Asyl findet Schumann in der Nervenheilanstalt Endenich bei Bonn - ein Fall für die Psychiatrie.

Noch Johannes Brahms meint später, im Supplementband der Schumann-Gesamtausgabe das Thema allein publizieren zu müssen, als ein Vermächtnis, das durch Variationen an Vollkommenheit nur verlöre. Bis 1939 bleiben die "Geistervariationen" unveröffentlicht. Zu verstörend war wohl, was nicht geschieht: Variationen nämlich über ein rührend schlichtes Thema, dem eigenen Violinkonzert entnommen, sie erscheinen wie Momentaufnahmen geisterhaften Zerfalls, sprachlos, ausdruckslos, kunstlos. Wer das komponiert hat, wer durch dieses Tor gegangen ist, der hat alle vormärzlichen Hoffnungen fahren lassen müssen, dem ist das geheime Bündnis verwandter Geister lange aufgekündigt worden, heißen sie nun Vult und Walt oder Eusebius und Florestan. Und dem leuchtet die Wahrheit der Kunst nicht mehr.

Der französische Pianist Jean-Marc Luisada setzt die Variationen für Klavier in Es-Dur an den Schluß seines konzeptionell überzeugenden Programms und damit in den Gesamtzusammenhang des Schumannschen Klavierwerks ein. Ganz und gar nicht harmlos klingt hier der Larventanz der "Papillons" op.2 des zweiundzwanzigjährigen Komponisten, zwölf gleichsam miniaturisierte Romane, ausgetragen als ein ernsthaft ironisches Spiel von Verpuppen und Entpuppen, bis zuletzt aller Klang aus dem pianopianissimo angerissenen Akkord entweicht. Und ebenfalls nicht harmlos klingt nach der heimeligen Arabesque in C-Dur op. 18 das andere große Maskenfest Robert Schumanns, "Carnaval" op. 9. Jean-Marc Luisadas überaus differenziertes Spiel trifft, obwohl die äußersten Extreme scheuend, den unheimlichen Ton dieses auf dem Biedermeiersekretär veranstalteten Tischfeuerwerks doch sehr genau, die jähen Abbrüche, das unvermittelte Erstarren und die Gesten des Verlöschens und Auslöschens.

Luisada läßt keinen Zweifel daran, daß der siegreiche Marsch der Davidsbündler gegen die Philister ausgangs des "Carnaval" bereits die ganze Niederlage enthält, lange vor den "Geistervariationen" des Nervenkranken. Ins Zentrum seiner Interpretation, wie übrigens des Albums überhaupt, rückt der gelungene Versuch, die unspielbare "Sphinxs" (nach Nr. 8) hörbar zu machen, da Schumann unverblümt den eigenen Namen und die Stadt Asch aufruft, die Geburtsstadt der "falschen" Verlobten Ernestine von Fricken. "Vielleicht hat das Rätsel ASCH im Grunde nur eine Bedeutung: das Wort Asche", schreibt Michel Schneider.

Den Sieg aus der Niederlage beschwört die aufwendige Titelbildgestaltung des französischen Künstlerpaares Pierre & Gilles, welche allein schon die CD zum begehrten Sammelobjekt machen dürfte, typographisch jedoch die Grenzen des Zumutbaren deutlich überschreitet. Inmitten eines Kranzes exotischer, feuchtlüsterner Blumen entfaltet ein heiliger Schmetterling, "Le Papillon noir", halb Mann, halb Frau, seine schwarzen Flügel. Immerhin scheint er den Betrachter zu würdigen, wenn auch herausfordernden Blickes.

Jean-Marc Luisada: Schumann. BMG/RCA Red Seal 74321 78690 2


 
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