© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/02 20. Dezember 2002 / 01/03 27. Dezember 2002

 
BLICK NACH OSTEN
Die Ukraine gehört zu Europa
Carl Gustaf Ströhm

Alle sprechen über die Türkei als mögliches EU-Mitglied - aber niemand über die Ukraine. Die einstmals zweitwichtigste Republik der Sowjetunion, deren Abtrennung vom großen Moskauer Imperium vom älteren Bush bis zu Helmut Kohl fast alle westlichen Staatsmänner verhindern wollten, hörte beim Zerfall der UdSSR nicht auf schlecht informierte westliche Politiker, sondern hißte die blau-gelbe ukrainische Fahne und versagte Moskau die Gefolgschaft. UN-Mitglied war das Land (zusammen mit Weißrußland) sogar schon seit 1945 -leider nur, um Moskau drei Uno-Stimmen zu verschaffen.

Mit etwa 50 Millionen Einwohnern, fruchtbarem Schwarzerdeboden, einer langen Schwarzmeerküste und mehreren Industriezentren könnte die Ukraine ein interessanter Partner für den Westen und besonders für die Mitte Europas sein. Gewitzte Ukrainer machen ihre westlichen Gesprächspartner darauf aufmerksam, daß die geographische Mitte Europas in der Ukraine liege - genau auf halbem Wege zwischen dem Uralgebirge und der Atlantikküste.

Dennoch ist die Ukraine als Staat seit der Unabhängigkeit 1991 im Westen nicht angekommen. Das mag teils selbst verschuldet sein: die in Kiew an die Macht gelangten (oder gleich in ihr verbliebenen) alten KP-Kader scheuten sich vor Reformen und griffen zu "bewährten" Methoden, um ihre Macht zu erhalten.

Der Westen hat aber andererseits selber dazu beigetragen, die Ukraine in ihrer Isolation zu belassen. Einmal wollte man den Russen nicht zu nahe treten, so kam es, daß, wie ein ukrainischer Politiker einmal verbittert sagte, der damalige Kanzler Kohl in der gleichen Zeitspanne, in der er ein Dutzend Mal mit dem damaligen russischen Präsidenten Jelzin zusammentraf, nur ein einziges Mal Zeit für den "Chef" der Ukraine übrig hatte.

Erschreckend ist die westliche Unkenntnis über Geschichte und Gegenwart dieses Landes. Lange Zeit folgte die westliche Diplomatie der Sowjetdoktrin, wonach die Ukrainer eigentlich "Russen" und die ukrainische Sprache ein "russischer Bauerndialekt" sei. Daß die ukrainischen Nationalisten bereits zu zaristischen Zeiten verfolgt wurden, wurde ebensowenig zur Kenntnis genommen, wie der furchtbare Blutzoll, den das ukrainische Volk unter der 70jährigen Sowjetherrschaft zahlen mußte.

Wie sehr es bei uns an Kenntnissen fehlt, bewies kürzlich ein Film im deutschen Fernsehen: da wurde die bis 1919 habsburgische Stadt Lemberg (Lviv) gezeigt und zu Recht auf die dort verübten NS-Verbrechen an den Juden hingewiesen. Mit keinem Wort aber wurde erwähnt, daß die sowjetische Geheimpolizei vor ihrem Rückzug 1941 ein Blutbad unter der national gesinnten ukrainischen Bevölkerung anzettelte und daß heute noch ungeöffnete Massengräber existieren. Die Ukrainer, die zunächst in ihrer Verzweiflung 1941 die deutsche Wehrmacht als Befreierin begrüßten, gerieten bald zwischen die Mühlsteine einer verbrecherischen Rassen- und Kolonialpolitik der deutschen NS-Verwaltung - und von der anderen Seite in die Sowjetisierungs- und Russifizierungsmaschine Stalins.

Nimmt man hinzu, daß die stalinistische "große Säuberung" ebenso wie vorher die Zwangskollektivierung in der ehemaligen "Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik" besonders erbarmungslos wütete, dann überraschen einen die heutigen Schwierigkeiten nicht mehr. Ein Wunder ist, daß die Ukraine überhaupt überleben konnte. Schon um ihrer Leiden willen - und aus strategisch-politischen Gründen - hätte die Ukraine einen Platz in Europa verdient.


 
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