© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/02 20. Dezember 2002 / 01/03 27. Dezember 2002

 
Der Bürger als Auslaufmodell
Politische Bildung: Auf seinem 5. Berliner Kolleg diskutierte das Institut für Staatspolitik mit Arnulf Baring über dessen Aufruf zum Aufstand
Wolfgang Saur

Die Herrschaft des dritten Standes hat in Deutschland nie jenen innersten Kern zu berühren vermocht, der den Reichtum, die Macht und die Fülle eines Lebens bestimmt." Diese kuriose Meinung, mit der Ernst Jünger vor 70 Jahren seinen "Arbeiter" eröffnete, ist gewiß falsch. Da wird man sich eher Thomas Mann anschließen, der bekannte, deutsch sein und bürgerlich sein, bedeute für ihn dasselbe.

Freilich traf die Verachtung, mit der die im Weltkrieg radikalisierte rechte und linke Intelligenz von Jünger bis Brecht die bürgerlichen Traditionen schmähte und "den Bürger" polemisch verabschiedete, das wahre Moment seines tatsächlichen historischen Verfalls. Bürgertum, Bürgerlichkeit und bürgerliche Kultur evozieren als Epochenfigur ein weltgeschichtliches Interim zwischen Alteuropa und Moderne, janusköpfig, eine Gestalt des Übergangs, welcher das "Jahrhundert der Extreme" den Garaus machte. Gleichwohl sprechen wir weiter von "bürgerlicher Gesellschaft", "Bürgersinn", und nehmen bürgerliche Werte wie Freiheit, Demokratie, Humanität für uns und gegen den Rest der Welt in Anspruch.

Hat Jüngers futuristische Utopie sich noch zu dessen Lebzeiten entzaubert, so liegt es nah, das von ihm Gescholtene hervorzuholen und erneut zu befragen. Das mag die ironische Anspielung im Arbeitstitel des 5. Berliner Kollegs des Institutes für Staatspolitik (IfS)am 14. Dezember motiviert haben, der da lautete: "Der Bürger. Herrschaft und Gestalt". Vor zahlreichen Gästen, moderiert durch Götz Kubitschek und umrahmt von der Präsentation aktueller Publikationen des IfS wie einer Filmvorführung am Abend, trafen dort Eberhard Straub, Manfred Lauermann, Arnulf Baring mit Karlheinz Weißmann zusammen, um am leitmotivischen Faden von Bürgertum und Bürgerlichkeit Historisches zu erörtern, aktuell Politisches zu kommentieren und nicht zuletzt an unser Vaterland einmal mehr die bange Frage zu richten: quo vadis?

Einen historischen Überblick der bürgerlichen Welt bot Eberhard Straub ("Die Götterdämmerung des Bürgertums") zum Auftakt. Seine tour d'horizon griff dabei systematische Themen auf, so Bildungsidee und Ästhetik, Gewaltenteilung, Liberalismus und politische Verantwortung oder den Zusammenhang von Bürgerlichkeit und antibürgerlichem Protest. Dieser ist deutbar als Selbstbefragung des Bürgertums, als dessen Korrektiv angesichts technokratischer Hypertrophie, welche instrumentalistisch die Vernunft entwertet und deren humanistische Zusagen kassiert.

Auch für Straub ist das Bürgertum eine Reminiszenz, das "bürgerliche Lager" verschwunden, "Restbestände" nur mehr privat erlebbar, da auch die Akademiker massendemokratisch nivelliert seien. Dem schwankenden und diffusen Gegenstand alle Ehre machend, endete sein Rückzugsgefecht in Ratlosigkeit.

Vor diesem Hintergrund verblüffte der Soziologe und Alt-68er Manfred Lauermann ("Der doppelte Abschied vom Bürgertum") mit seinen Paradoxa vom bürgerlichen Machtantritt nach 1945 oder der Apo als letztem bürgerlichen Rettungsversuch. Immerhin unterschied er zwischen "historischer Sozialfigur", obsolet auch für ihn, und politischer "Herrschaft". Nicht so abwegig seine zweite These, sieht man als zeittypisch repräsentativ etwa Marcuses "Eindimensionalen Menschen" (1967) an, in dem die idealistisch verwurzelte, ältere Entfremdungskritik modernisiert und ein für links wie rechts annehmbares kulturkritisches Modell geschaffen wurde. Nach Exkursen zu "Machttechniken" und zum Elitenwandel exponierte Lauermann Thesen zur deutschen Gegenwart, die er durch die Herrschaft eines "universellen Kleinbürgertums", eines differenzfeindlichen "Biedermeiers" und "zivilgesellschaftlichen Totalitarismus" charakterisiert fand. Dessen "Sprachstrategien" und "Denkverbote" begründen das aktuelle System politischer Korrektheiten, das mit Sprachregelungen operiert, deren "täuschenden Schein" schon Marx im angemaßten Universalismus partikularer Interessen erkannt hatte.

Lauermanns Beitrag provozierte nachmittags Arnulf Barings plausiblen Widerspruch, mit dem er die Ansicht von der "bürgerlichen Apo" entrüstet zurückwies, indes die "schläfrige Konsensmentalität" unseres Landes gleichermaßen geißelte. Gegenwartsnäher und politisch stimulierend entfaltete sein lebhaftes Podiumsgespräch mit Karlheinz Weißmann den zweiten, weniger akademischen Teil der Auseinandersetzung.

Hier nun stand das Krisenszenario der Gegenwart, die Defizite der Bundesregierung und die mentalen Untiefen der "deutschen Misere" im Vordergrund. Frei nach Goethe hielt der Grandseigneur und eloquente Bildungsbürger dem "nationalen Waschzwang" entgegen: "Jeder sei ein Deutscher, aber er sei's!" Von da aus erscheint das antideutsche Syndrom als "Triumph des Hitlerschen Vernichtungswillens", gipfelnd in Fischers Auschwitzphilosophie, die Baring als "absurd", "geradezu unverantwortlich" apostrophierte. Angesichts der Feigheit amtierender Politiker vor den aktuellen Herausforderungen und der Unausweichlichkeit drastischer Lösungen sei eine Revision des negativen Nationalismus unabdingbar: Opfer seien nur zumutbar, das Land erst mobilisierbar, wenn man positiv ans "Gemeinschaftsgefühl appellieren" könne, sich das kollektive "Wir" im Zweifel auch als Notgemeinschaft bewähre.

Wer würde dem wiedersprechen? Daß indes tiefgreifende Mentalitätsverschiebungen, ungeachtet ihrer Notwendigkeit, nicht so glatt vor sich gehen, erkennt Weißmann klarer, gehört zu seinen intellektuellen Qualitäten doch eine unerschrockene Optik für düstere Fakten. In welcher Komplexität die Mikrophysik der Macht heute spielt, läßt sich gut der aktuellen Broschüre des IfS ("Politische Kampagnen") entnehmen.

Von da aus gewinnen die politischen Kuriositäten ihre Tiefendimension und sind grundlegende Neuerungen des Systems schwer vorstellbar. Ein Problem für den "Ernstfall", dem Grundgesetz und verbrauchtes Parteiensystem kaum gewachsen sein dürften. Da gelte es, kreative Potentiale auszuschöpfen und kritische Alternativen zu entwerfen, noch bevor die Krise eskaliere. Baring schloß mit dem Ruf: "Es lebe die Republik, es lebe Deutschland!"


 
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