© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/02 20. Dezember 2002 / 01/03 27. Dezember 2002


"Ich habe immer gebetet"
Bernd Baron Freytag von Loringhoven über Weihnachten im Kessel von Stalingrad und seine Rettung
Moritz Schwarz

Baron Freytag von Loringhoven, die Vernichtung der 6. Armee im Kessel von Stalingrad, deren Jahrestag in wenigen Wochen zum 60. Mal wiederkehrt, gilt als die deutsche Katastrophe des Zweiten Weltkrieges schlechthin. Die Weihnacht 1942 verbrachten die deutschen Soldaten von Stalingrad, ebenso wie ihre russischen Kameraden, in ihren Schützenlöchern. Zwischen totaler Verzweiflung angesichts des bevorstehenden Endes einerseits und der irrealen Hoffnung auf Entsatz durch die bereits liegengebliebene Panzergruppe Hoth andererseits. Sie waren als Kommandeur eines Panzerbataillons im Bereich der 44.Infanteriedivision eingesetzt und sind einer der wenigen Überlebenden der 6. Armee. Wie haben Sie dieses Weihnachtsfest im Angesicht des Todes erlebt?

Freytag von Loringhoven: In großer Bedrückung, denn Hitler hatte bekanntlich General Paulus den Ausbruch aus der Stadt verboten, wir sollten uns weiter in Stalingrad festkrallen, weil der Mythos des Namens zu mächtig war. Dabei war seit dem 23. November, dem Tag der Schließung des Kessels klar, daß wir ohne einen Ausbruch dem Untergang geweiht waren. Und so war die Enttäuschung riesig, als der Versuch zu uns vorzustoßen, nur drei Tage vor Weihnachten scheiterte.

Wie war die Stimmung am Abend des 24. Dezember 1942 unter den Soldaten?

Freytag von Loringhoven: Angesichts der Aussichtslosigkeit der Lage waren wir alle von einer gewissen Dumpfheit erfüllt. Viele versuchten, die hoffnungslose Stimmung zu überspielen, indem sie in Gedanken in der Heimat weilten, wo ihre Lieben Weihnachten feierten.

War der Heilige Abend 1942 anders als die anderen Abende in Stalingrad, die ja genauso im Zeichen des Untergangs standen?

Freytag von Loringhoven: Es wurde auch in dieser Nacht geschossen, denn die russische Weihnacht ist erst im Januar. Zufällig waren wir aber an diesem Abend nicht im Kampfeinsatz. Meine Männer saßen in ihren Gruppenlöchern zusammen, und die Köche hatten versucht, zusammenzukratzen, was sie noch zu finden vermochten, um den Abend zu verschönen, aber ein ein richtiges Feiern - und sei es nur im bescheidensten Maße - war eigentlich nicht möglich.

Feldpostbriefe berichten, daß viele Soldaten sich auf das Christfest trotz der Not mühevoll vorbereitet hatten. Man sparte Lebensmittelrationen auf, schnitzte oder bastelte Geschenke für Kameraden, nur um wenigstens etwas verschenken zu können.

Freytag von Loringhoven: Das war bei uns nicht drin, wir hatten bis Weihnachten dauernd im Kampf gestanden. Unsere Panzer mußten von Einbruchstelle zu Einbruchstelle um dort zu versuchen, die Russen wieder aus unseren von ihnen gestürmten Stellungen zu werfen, weil unsere Infanterie sich nicht erneut eingraben konnte, da der Boden gefroren war. Die Infanterie hätte sonst auf der bloßen Erde bzw. im Schnee liegen müssen.

Wie aber haben Sie nun persönlich den Heiligen Abend erlebt?

Freytag von Loringhoven: Ich saß am Abend mit meinem Stab zusammen, wir hatten ein oder zwei Lichter an. Für mich war es eine Freude, daß ein Offizier der 44. Infanteriedivision uns einen Tannenzweig geschenkt hatte, den wir dann zu schmücken versuchten. Dieser Zweig war wirklich etwas Besonderes, denn die Steppe war völlig baumlos und an einen Christbaum war nicht zu denken. Aber natürlich auch, weil dieser famose Zweig ein Zeichen der Anerkennung der Infanterie war, die sich damit für den Einsatz unserer Panzer in ihrem Abschnitt bedanken wollte. Ansonsten herrschte eine unerträgliche Kälte von etwa 25 Grad minus. Wenigstens hatten wir kurz vor der Einschließung noch gefütterte Kleidung und Filzstiefel bekommen, aber dieses Glück hatten nicht alle Truppen. Das war dann fürchterlich!

Erreichten die Truppe irgendwelche Grüße aus der Heimat, per Flugzeug oder wenigstens per Radio?

Freytag von Loringhoven: Wir hatten pro Bataillon einen Radioapparat. Aber wir konnten uns, wie gesagt, in Bereitschaft liegend und bei dieser Kälte nicht versammeln, um alle gemeinsam ein Programm zu hören. Und per Flugzeug konnten natürlich keine Weihnachtsgeschenke oder Sonderrationen eingeflogen werden. Bekanntlich hatte die Armee zu Anfang 600 Tonnen Versorgungsgüter täglich gefordert, die Luftwaffe hatte schließlich 350 zugesagt, aber diese Zahl wurde an keinem einzigen Tag erreicht - im Schnitt kamen nur hundert Tonnen pro Tag. An irgendwelche Extras war nicht zu denken.

Gab es nicht wenigstens eine Feldmesse?

Freytag von Loringhoven: Wie sollten wir das denn machen, wir lagen in den Stellungen und versuchten, uns gegen die Kälte zu schützen. An eine stundenlange Versammlung unter freiem Himmel war nicht zu denken.

Gab es keine Verbitterung darüber, das "Fest des Friedens und der Liebe" an der Front und dazu mit dem Tod vor Augen zu verbringen?

Freytag von Loringhoven: Nein, denn der einfache Soldat klammerte sich, trotz der offensichtlichen Ausweglosigkeit, an die Worte Hitlers: Haltet aus, ich hau' euch raus! Viele der Männer haben bis zum Schluß gehofft.

Haben die Soldaten wirklich daran geglaubt, oder haben sie sich das lediglich aus purer Verzweiflung selbst eingeredet?

Freytag von Loringhoven: Unsere Not war so groß, daß die Leute daran zu glauben begannen. Sonst hätten sie sich ja aufgeben müssen, und das bedeutete Tod oder Gefangenschaft. Ich wußte natürlich, wie jeder, der nachdachte, daß eine Rettung nur noch eine Illusion war.

Wie haben Sie diese Erkenntnis verarbeitet?

Freytag von Loringhoven: Ich mußte mich zusammennehmen, schließlich konnte ich nicht herumlaufen und meinen Soldaten den letzten Mut nehmen.

Es war also die Pflicht, aus der Sie die Kraft schöpften?

Freytag von Loringhoven: Ja, die Verantwortung für meine Männer.

Weihnachten ist ein besonders emotionaler Tag, manche Menschen fallen schon in Friedenszeiten am Heiligen Abend in Melancholie, ist diese Gefahr nicht erst recht in solch einer verzweifelten Situation gegeben?

Freytag von Loringhoven: Das habe ich in Stalingrad nicht erlebt. Jeder war bedrückt, aber keiner brach an diesem Abend zusammen oder ließ sich gehen.

Ein Veteran berichtete, wie seine Welt der bürgerlichen Sicherheiten in Stalingrad "verbrannt" sei: er habe Generäle feige gesehen und erlebt, wie Ärzte und Feldgeistliche Verwundete und Sterbende, statt ihnen beizustehen, nach Brot abgetastet hätten.

Freytag von Loringhoven: Das ist Unsinn, in disziplinierten Truppenteilen, wie dem, in dem ich gedient habe, war trotz aller Not Kameradschaft und Manneszucht intakt. Ich war einmal zufällig zu Gast im Stab von General von Seydlitz. Dort konnte ich sehen, daß dieser die gleiche Wassersuppe serviert bekam, mit der auch wir in unserem Abschnitt verpflegt wurden. Und welche furchtbare Arbeit die Ärzte und Feldgeistlichen zu bewältigen hatten, habe ich bei Besuchen im Lazarett gesehen. Es war ein grauenvoller Anblick. Besonders schrecklich aber war: Schon vor den Feldlazaretten schichteten sich mannshoch die Leichen. Wer starb, konnte wegen des gefrorenen Bodens nicht begraben werden, also wurde er rausgetragen und vor dem Eingang aufgestapelt.

Glauben Sie an Gott?

Freytag von Loringhoven: Ja.

Wurde Ihr Glaube durch den Schrecken von Stalingrad erschüttert?

Freytag von Loringhoven: Nein, ich habe immer gebetet, und der Glaube hat auch vielen meiner Kameraden bis zuletzt Halt gegeben.

Der Feldarzt Kurt Reuber malte die berühmte "Festungsmadonna", die "Madonna von Stalingrad", wie sie heute heißt. Kannten Sie Reuber?

Freytag von Loringhoven: Reuber gehörte zu meiner Division, aber ich kannte ihn nicht persönlich. "Die Madonna von Stalingrad" habe ich damals nicht zu Gesicht bekommen, sondern erst nach dem Krieg gesehen. Das Bild ist aber in der Tat ein großartiges Symbol für das innere Erleben der Verzweiflung in Stalingrad.

Elf Tage vor der Kapitulation wurden Sie auf wunderbare Weise gerettet?

Freytag von Loringhoven: Am 20. Januar erhielt ich den Befehl, als Kurier aus dem Kessel auszufliegen. Ich war völlig überrascht, denn ich hatte im Traum nicht mehr daran gedacht, noch aus Stalingrad entkommen zu können. Ich hatte mich inzwischen darauf eingestellt, entweder zu sterben oder in Gefangenschaft zu gehen, was uns damals übrigens schlimmer vorkam als der Tod.

Ihre Kameraden mußten Sie aber zurücklassen.

Freytag von Loringhoven: Das war sehr hart und ich habe mich geschämt, als einer der wenigen gerettet zu werden. Aber meine Kameraden haben rührend reagiert: statt mir Vorwürfe zu machen, haben sie sich für mich gefreut und mich ermuntert, zu fliegen.

1947 kehrten Sie aus englischer Kriegsgefangenschaft heim. Haben Sie später noch an Weihnachten in Stalingrad zurückgedacht?

Freytag von Loringhoven: Ja, aber zum Glück gelang es nach dem Krieg, die schrecklichen Erinnerungen an diese schlimme Zeit meist auszublenden. Aber natürlich treffe ich heute noch regelmäßig Kameraden - wenn auch nicht zu Weihnachten. Zum Beispiel meinen damaligen Burschen, er war 19 Jahre alt und hat die Schlacht um Stalingrad ebenso wie die Gefangenschaft danach überlebt. Und das ist ungeheures Glück, denn von den 300.000 jungen Männern, die nach Stalingrad zogen, kehrten bekanntlich überhaupt nur 6.000 je nach Hause zurück.

 

General a.D. Bernd Baron Freytag von Loringhoven war während des Rußlandfeldzuges Kommandeur eines Panzerbataillons und erlebte Weihnachten 1942 zusammen mit seinen Männern im Kessel von Stalingrad. Der spätere stellvertretende Generalinspekteur der Bundeswehr - 1973 nahm er als Generalleutnant seinen Abschied - hatte sich 1934 zur Reichswehr gemeldet und vor dem Rußlandkrieg am Polen- und am Frankreichfeldzug teilgenommen. Nach seiner Rettung aus Stalingrad war er Adjutant des Generalstabschefs des Heeres Heinz Guderian. Er sympathisierte mit dem 20. Juli, war aber an der Aufstandsplanung nicht beteiligt, auch wenn seine Polizeiakte bemerkte: "Der Teilnahme verdächtig". 1945 ging der Major in britische Gefangenschaft. Freytag von Loringhoven stammt aus baltischem Adel und wurde 1914 im estnischen Arnesburg auf der Insel Ösel geboren.

 

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