© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/02 20. Dezember 2002 / 01/03 27. Dezember 2002

 
Durststrecke zu erwarten
Auf dem EU-Gipfel wurde die Aufnahme von zehn Ländern beschlossen
Carl Gustaf Ströhm

Der Kopenhagener EU-Gipfel mitb seinem "big bang" der Aufnahme von zehn neuen Mitgliedern hat eine alte Weisheit bestätigt: Jedes noch so freudige Ereignis kann aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Da ist einmal die offizielle Version: Es sei ein Triumph für die Freiheit und Demokratie, meinte der dänische Premier Anders Fogh Rasmussen. Belgiens Außenminister Louis Michel sprach von der Rückkehr entführter Kinder der freien Welt - der gleiche Michel zeigte sich bei den EU-14-Sanktionen gegen Österreich vor zwei Jahren keinesfalls so sentimental. Polens Ministerpräsident Leszek Miller feierte das endgültige Ende von Jalta, wo 1945 Roosevelt und Churchill halb Europa an die Sowjets ausgeliefert hatten.

Doch wer zwischen den Zeilen las und hörte, vernahm auch skeptische Töne. Inmitten der subjektiv verständlichen Freudenbekundungen, vor allem in den mittel- und osteuropäischen Ländern, meldete sich der scheidende Vorsitzende der tschechischen Rechtsliberalen (ODS), Václav Klaus, zu Wort. Man müsse, so verlangte er, die Bevölkerung auch über die zahlreichen Nachteile des EU-Beitritts aufklären. Vorsichtiger äußerte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder: die EU müsse auch nach ihrer Erweiterung "politisch führbar" bleiben. Schon mit den bisherigen 15 Mitgliedern war das nicht immer möglich. Wie das in Zukunft möglich sein soll - es sei denn, man unterwirft die EU einer Diktatur der Großen und Reichen auf Kosten der kleineren und ärmeren Länder -, ist bis jetzt unklar.

Der Präsident der Slowakei, Rudolf Schuster, erwartet für die Bürger seines Landes nun einen höheren Lebensstandard. Ökonomen dagegen befürchten, daß es für die neu aufgenommenen Länder zunächst eine Durststrecke geben wird. Die Polen können zufrieden sein: sie haben eine zusätzliche Milliarde Euro für sich herausgeschlagen. Auch die Ungarn feilschten bis zuletzt um jeden Euro. Ebenso wie die Polen müssen sie um die Konkurrenzfähigkeit ihrer Agrarprodukte fürchten. Der ungarischen Landwirtschaft - und nicht nur ihr - drohe in der EU der Ruin, prophezeite ein Budapester Experte. Doch von solchen Warnungen wollte man in dieser großen Stunde nicht allzu viel hören.

Die Einbeziehung ehemals sowjetischer Satellitenstaaten und sogar dreier Ex-Sowjetrepubliken - also des Baltikums - in die Union schien alle Skepsis in den Hintergrund zu drängen. Dabei zeigte sich an einem konkreten Beispiel, wie hart und unbarmherzig die EU mit ihren Mitgliedern umgehen kann, vor allem, wenn diese klein sind und sich nicht wehren können. Inmitten der Europaeuphorie kam es zu einer hörbaren Dissonanz, als der EU-Gipfel zwar (in Worten) sehr freundlich und verständnisvoll mit den postkommunistischen Aufnahmekandidaten umging, dagegen aber ein "älteres" neues Mitglied - die Österreicher - mit eisiger Ablehnung bedachte. Als Kanzler Wolfgang Schüssel die Anliegen seiner Landsleute vorbringen wollte - es ging um die Eindämmung der Lkw-Transit-Lawine durch das Inntal und Vorarlberg nach Italien bzw. die Schweiz -, bissen die Wiener Unterhändler auf Granit.

Niemand kam Schüssel zu Hilfe, als er eine Eindämmung des Schwerlastverkehrs durch die Alpen durchsetzen wollte. Mit besonderer Erbitterung stellte man in Österreich fest, daß der deutsche Außenminister Joseph Fischer den naturfreundlichen Wünschen aus Wien mit Eiseskälte gegenübertrat. Die rot-grüne Berliner Regierung hat damit erheblich dazu beigetragen, eine Regelung für das Tiroler Inntal zu vereiteln, durch welches der Haupt-Transitverkehr von Nord- nach Südeuropa rollt.

Schlimmer noch ist, daß die Österreicher auch der Forderung, wonach der Europäische Gerichtshof über einen etwaigen österreichischen-tschechischen Konflikt im Zusammenhang mit dem grenznahen tschechischen AKW Temelín entscheiden solle, abgeblitzt sind: Großbritannien, Schweden und Finnland - Länder mit ausgebauten Kernkraftwerken - stellten sich dagegen. Auch in dieser Frage rührten Fischers deutsche Grüne, die sonst nicht schnell genug bei der Schließung von Atomkraftwerken zur Stelle sein können, keinen Finger zugunsten Wiens.

Ein weiteres Anliegen der Österreicher, für das sich die Wiener Regierung immerhin (im Gegensatz zur deutschen) eingesetzt hatte, kam gar nicht erst auf die Tagesordnung: die Frage der Benes-Dekrete und die Vertreibung der Sudetendeutschen. Schüssel wurde erklärt, in solch historischer Stunde könne und wolle man sich nicht mit "Kleinkram" befassen. Die Österreicher wurden also abgeschmettert - so daß Schüssel am Ende dieses "großen" europäischen Tages eine handfeste Drohung in den Raum stellte: Sollte die sogenannte Öko-Punkte-Regelung für den Lkw-Transit nicht um drei Jahre verlängert werden, werde Österreich am 16. April in Athen seine Unterschrift unter den Beitrittsvertrag der zehn Kandidatenländer verweigern. Und der Salzburger Landeshauptmann Franz Schausberger (ÖVP) brachte es auf den Punkt: "Wir sind nicht der Auspuff Europas." Manch ein Skeptiker stellte sich die Frage, wann das erste der euphorischen postkommunistischen Neumitglieder seine erste schwere Enttäuschung mit Brüssel & Co. erleben werde.


 
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