© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/02 20. Dezember 2002 / 01/03 27. Dezember 2002


"Licht, Liebe, Leben"
Die Weihnacht im Kessel von Stalingrad 1942 erinnert an den Gedanken der Erlösung
Stefan Scheil

Weihnachten, das ist für den vom Wohlstand verwöhnten Bundesbürger oft nichts anderes als die Summe seines Anspruchsdenkens. Wenn jüngst aus Regierungskreisen allen Ernstes zu hören war, wer jetzt etwas für sein Land tun wolle, der solle kräftig einkaufen und damit die Konjunktur beleben, dann ist das ein bezeichnend platter Versuch, der bundesrepublikanischen "Feier des Konsums" so etwas wie einen tieferen Sinn zu geben. Nun wird der Sinnverlust des Weihnachtsfestes zwar alle Jahre erneut beklagt, doch in diesem Jahr drängt sich zwischen die üblichen Fronten etwas, das vielen Deutschen schwer auf der Seele lastet. Die Schlacht von Stalingrad jährt sich zum sechzigsten Mal, und damit drängt sich die Erinnerung an diejenigen auf, die dort Weihnachten feiern mußten und niemals zurückkehrten.

Die menschliche Trennung zu Weihnachten ist ein Schmerz, der auch dem religiös indifferenten Bundesbürger ohne weiteres verständlich ist. Denn Weihnachten ist in Deutschland immer in erster Linie ein Familienfest gewesen, ein Tag des Friedens, des Feierns und vor allem des Zusammentreffens und der Gemeinschaft, mit anderen Worten: ein bürgerliches Fest der Heimkehr. In Kriegszeiten wurde daraus immer wieder das allen gemeinsame Kriegsziel, Weihnachten wieder zu Hause zu sein. Das blieb aber während der Weltkriege über Jahre für die meisten Soldaten ein unerfüllter Traum. Die Situation in Stalingrad aber unterschied sich zudem noch von der an anderen Fronten. Der Druck, der auf den Soldaten dort lastete, war größer, und auch deshalb wurde die Weihnachtsschaltung des deutschen Rundfunks zu den militärischen Vorposten und die Stalingrad-Weihnachtsidylle, die dort produziert worden war, in Stalingrad selbst mit Ärger und sogar Empörung registriert. Konfrontiert mit dem Zorn und den Haßtiraden der russischen Propaganda und ganz besonders an Weihnachten selbst mit den militärischen Angriffen, die von der Roten Armee bewußt an diesem Tag unternommen wurden, weil der sentimentale Wert des Festes für den Gegner bekannt war, war allen klar, daß sie einen einsamen Kampf um ihre Existenz führten. Viele Soldaten waren nicht sicher, ob dieses Fest hierher paßte, feiern wollten sie es trotzdem.

Um Weihnachten im Kessel von Stalingrad ranken sich denn auch manche Geschichten. Es sind vorwiegend Erzählungen von Improvisation und persönlichem Leiden und Hoffen. Obwohl der mögliche Ausbruch aus dem Belagerungsring oder die Hoffnung auf Entsatz von außen naturgemäß im Mittelpunkt des Interesses der Soldaten standen, warteten doch alle auf das Weihnachtsfest und hatten frühzeitig mit den Vorbereitungen begonnen. Oberbefehlshaber Paulus stand dieser Absicht skeptisch gegenüber. Er fand die Lage nicht angemessen, um Feste gleich welcher Art zu feiern. Andere Offiziere wie der Kommandeur der 376. Infanteriedivision, General Edler von Daniels, kannten die Bedürfnisse ihrer Soldaten besser. Daß Weihnachten "auf deutsche Weise gefeiert werden soll(te), selbst im entferntesten Rußland", kündigte er in einem Brief an seine Frau an. In diesem Sinn wurden überall Essensrationen gespart, Kerzen zurückgelegt und Geschenke gebastelt, um eine improvisierte Feier möglich zu machen.

"Wir haben uns manches Mal gefragt, in den Tagen vorher, wie dieses Weihnachtsfest 1942 verlaufen wird. Ich weiß nur, daß es in dieser 'Trotzdem-Stimmung' gut und tiefer verlaufen wird als die vergangenen und künftigen Weihnachtsfeste ... als der Wind abflaute, war mir das wie ein Symbol dafür, daß nach Not und Ungestalt des Schicksals das Leben sich wieder wendet", so hieß es in einem Feldpostbrief vom 24. Dezember.

Am Ende blieb diese Hoffnung unerfüllt. Das "Leben wendete" sich nicht, und bald darauf folgte in Stalingrad die Niederlage. Für die Überlebenden kam die Gefangenschaft und für den weitaus größten Teil von ihnen später der Tod. Unter ihnen der Feldarzt und Theologe Kurt Reuber, der für seine Kameraden auf die Rückseite einer russischen Landkarte eine Mutter Maria - nach dem Krieg bekannt geworden als die "Madonna von Stalingrad" - malte und mit den Worten aus dem Johannesevangelium "Licht, Leben Liebe" versah. Gerade einmal sechtausend der 300.000 Angehörigen der 6. Armee kehrten nach Jahren der Gefangenschaft in die Heimat zurück.

Es war zugleich der Auftakt für eine lange Reihe von anderen Katastrophen. Fern im Westen war man tief besorgt darüber, Josef Stalin könnte nach diesem Prestigeerfolg über die bisher ungeschlagene Wehrmacht Deutschland einen Kompromißfrieden anbieten. Könnte der Krieg am Ende noch ohne die in vielen westalliierten Planungen angestrebte Vernichtung Deutschlands zu Ende gehen? Die Kämpfe im eisigen Stalingrad waren daher noch nicht verklungen, da war aus dem sonnigen Casablanca zum ersten Mal öffentlich die Forderung der Westmächte von der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands zu hören. Daher läßt sich Stalingrad nicht nur als eine militärische Wende, sondern auch als ein Symbol für den Weltkrieg überhaupt deuten. Umlagert und bekämpft von deutlich überlegenen und kompromißlosen Gegnern, wie es Deutschland nun einmal war, mußten früher oder später viele Situationen wie in Stalingrad entstehen; und es folgte tatsächlich noch "X-mal Stalingrad", wie es in einer Nachkriegsveröffentlichung hieß. Am Ende wurden gar von russischer Seite oft überhaupt keine Gefangenen mehr gemacht.

Die "Stalingrader Einsamkeit" Deutschlands war Weihnachten 1942 in der Stadt an der Wolga im Konkreten vorweggenommen. Sie fand ihren Ausdruck in den Nachrichten nach Hause. Die Feldpost wurde von der Heeresleitung beschlagnahmt. Um "die Stimmung in der Festung Stalingrad kennenzulernen", wurden die Briefe geöffnet, Anschriften und Absender entfernt. Als eine erste statistische Auswertung ergab, daß die Einstellung zur Kriegführung nur bei zwei Prozent der Briefe positiv war, in allen anderen hingegen zweifelnde, ablehnende und oppositionelle Haltungen zu Tage traten, ließ die Heeresleitung von ihrem Vorhaben ab, ein dokumentarisches, den Krieg rechtfertigendes Werk über die Schlacht an der Wolga zu schreiben. "Untragbar für das deutsche Volk", entschied Propagandaminister Goebbels. Ihre Adressaten erreichten diese Schreiben nie, erst nach dem Krieg wurden sie wieder entdeckt.

Jüngst wurde der Symbolcharakter Stalingrads unerwartet sichtbar. Es war kaum ein Zufall, daß die "Wehrmachtsausstellung" in ihrer ersten Fassung den Versuch unternahm, gerade der 6. Armee "auf dem Weg nach Stalingrad" möglichst viele Verbrechen zuzuschreiben. "Verbrechen der Wehrmacht" die, wie sich herausstellte, entweder gar nicht oder nicht so stattgefunden haben, zum Teil an Orten wie Tarnopol, wo diese Armee nie gewesen war. Auch in dieser Hinsicht dient diese Armee den Machern als Kristallisationspunkt, in diesem Fall für die eigenen Vorstellungen darüber, was die deutsche Armee in Rußland getan habe. Gerade an den eigenen Phantasien über die 6. Armee ist die erste Wehrmachtsausstellung dann aber gescheitert.

Auch das könnte ein Anlaß sein, den Soldaten von Stalingrad etwas Gerechtigkeit zu gönnen, sie nachträglich heimzuholen und ihnen einen Platz in der Erinnerung einzuräumen. Weihnachten wäre eine Gelegenheit, damit zu beginnen.


 
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