© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/02 13. Dezember 2002

 
Naturschutz: Ein neuseeländischer Flußgeist legt die Walzen der Vernunft lahm
Wider die entweihte Welt
Silke Lührmann

Spätestens mit Peter Jacksons "Herr der Ringe"-Verfilmung wurde Neuseeland, seit langem ein Lieblingsreiseziel zivilisationsmüder Europäer, zum Inbegriff des verwunschenen Märchenreiches. Daß auch hier manche Spannung zwischen Tradition und Moderne, zwischen den einheimischen Maori und den Pakeha, Neuseeländern europäischer, zumeist britischer Abstammung, ungelöst bleibt, kennen Kulturbeflissene aus Keri Hulmes Roman "Unter dem Tagmond" (1984) und aus Lee Tamahoris Film "Die letzte Kriegerin" (1995).

Wenn am 18. Dezember die zweite Folge der Tolkien-Trilogie in die Kinos kommt, wird die Mittelerde wieder in aller Munde sein. Sechs Wochen zuvor ging ein leiseres mythologisches Raunen durch die Weltmedien. "Sumpfkreatur hält Straßenbau auf", titelte die BBC auf ihrer Internetseite. Fast eine Woche lang ruhten die Bauarbeiten an der Strecke zwischen Neuseelands größter Stadt Auckland und dem Landwirtschaftszentrum Hamilton, nachdem Vertreter des Maori-Stammes Ngati Naho Bedenken geäußert hatten, die Bagger würden das Wohngebiet des Taniwha (Flußgeistes) Karutahi, "Ein Auge", an einer Krümmung des Waikato-Flusses bei Meremere zerstören. Eine vierspurige Verkehrsführung soll die Straße, die zu den meistbefahrensten und gefährlichsten des Landes zählt, künftig sicherer machen. Wie bei allen größeren Bauvorhaben zog die Regierung die betroffenen Stämme zu Rate und ließ ein "kulturelles Gutachten" erstellen, das auf alte Friedhöfe und andere heilige Stätten hinweist.

Holzschnitzereien der Maori stellen Taniwha (tanni-fa gesprochen) als furchterregende Wasserschlangen mit weit aufgerissenen Schlünden dar. Der Stammesälteste Tui Adams erklärt in einem Zeitungsinterview, sie seien Menschen gegenüber "eher hilfsbereit als bösartig": Dämonen auf Abruf sozusagen, die mit Gebeten herbeibeschworen und nach geleisteten Diensten - etwa der Bergung eines Ertrunkenen - wieder "schlafen gelegt" werden. Reiseberichte aus dem 19. Jahrhundert beschreiben sie als "Ungeheuer mit dem Kopf eines Alligators", die das Wasser mit ihren mächtigen Schwanzflossen aufwühlen.

Das Bemühen der Ngati Naho um theologischen Artenschutz wirft die politisch wie philosophisch nicht uninteressante Frage auf, wem das Land gehört - den Maori oder den Pakeha, den Göttern oder den Menschen: den Alteingesessenen, die es spirituell beleben, oder den Neuankömmlingen, die es profitabel besiedeln? Historisch scheint sie freilich längst entschieden. Daß die Zukunft den fortschrittlichen Kräften gehört - den Entweihern und Entzauberern der Welt - und nicht den Ewiggestrigen, klingt so selbstverständlich, als wäre es kein semantischer Zirkelschluß. Auch die Maori haben aus der Geschichte gelernt. Immer mehr Stämme werden zu Aktiengesellschaften umstrukturiert, um aus ihrem Erbe - vor allem dem wichtigen Baumaterial Holz - Kapital zu schlagen.

Die Pakeha, die ihre eigenen Sagenwesen in Europa zuückgelassen und nur die Bibel im kolonialen Handgepäck mitgebracht hatten, verfolgten des Einäugigen Treiben mit einer Mischung aus Spott und Sehnsucht. In der Mehrzahl waren die zynischen Stimmen, die behaupteten, den Ngati Naho ginge es weniger um mana, Stammesehre, als um money: darum, der Regierung eine Entschädigungszahlung abzutrotzen. Jede Überzeugung hat ihren Preis, und selbst Flußgeister sind käuflich, lautete der Konsens. Andere hatten Karutahi im Nu als Verbündeten im Protest gegen die Zuwanderung aus dem asiatischen Raum kooptiert: Sein Auftauchen signalisiere die berechtigte Angst der Maori, von einer weiteren Überfremdungswelle vollends weggeschwemmt zu werden.

Hätten die Stammeshäuptlinge nicht 1840 ihre Souveränität an die britische Krone abgetreten, schrieb der Kolumnist John Roughan im New Zealand Herald, dann hieße die für den Straßenbau zuständige Behörde heute Transit Aotearoa statt Transit New Zealand und könnte solch abergäubischem Unsinn rasch ein Ende bereiten, ohne als politisch unkorrekt und kulturell unsensibel zu gelten. "Das Ministerium für Folklore würde in einer Presseerklärung klarstellen, daß Flußgeister früher eine erzieherische Funktion erfüllten, indem sie uns von Sümpfen fernhielten. Heute machen wir Ingenieure für unsere Sicherheit verantwortlich."

Denn wie Jan Corbett in der Wellingtoner Dominion Post erläutert, sind auch Legenden den Gesetzen der Evolution unterworfen. Die Vorfahren der Maori lebten in Polynesien und glaubten, daß der gewaltigste aller Taniwha über den Horizont herrschte und alle Menschen verschlänge, die sich ihm zu nähern wagten. Als die Nahrung zu knapp wurde und die Inselbewohner sich gezwungen sahen, auf der Suche nach neuem Lebensraum mit ihren Kanus in See zu stechen, verlor der Taniwha plötzlich seinen Schrecken.

Der andere Kulturkampf, der letzte Woche auf neuseeländischem Boden ausgetragen wurde, ging um die Versetzung eines Denkmals, das in der Kleinstadt Paeroa den Verkehr behinderte. Um die sechs Meter hohe Limonadenflasche zu fotografieren, mußten Touristen sich bisher mitten auf die Hauptstraße stellen. Die Skulptur erinnert an den genius loci, das beliebte Erfrischungsgetränk L&P (Lemon & Paeroa, das heute von Coca Cola in Auckland unter Lizenz gebraut/hergestellt wird). Gesegnet seien jene Völker, so Roughan, die sich "einen Sinn für die Heiligkeit des Landes" bewahrt haben und nicht nur mit der Natur, sondern mit ihren Traditionen in Harmonie leben. Auch diese Logik, so tröstlich sie anmuten mag, beißt sich in ihren schuppigen Schwanz: Wer braucht schon "Segen", der die Zementwalzen der instrumentellen Vernunft auf seiner Seite weiß?

In Meremere wie anderswo sind die Unfalltoten keine Opfer eines Taniwha, sondern der Tatsache, daß zu viele Neuseeländer das Autofahren weniger als erlernbare Fähigkeit denn als menschliches Grundrecht betrachten. (Ab nächstem Jahr können Teilnehmer eines Pilotprojekts die Fahrerlaubnis auf Bewährung beantragen, die auf Dauer die Führerscheinprüfung ganz ersetzen soll.) Abhilfe verspricht man sich von einer Verbreiterung der Fahrbahn, und so scheinen beide Seiten bestrebt, den Konflikt in weiteren Verhandlungen friedlich zu lösen. Die Stelle, wo die alte Straße an Karutahis sumpfiges Zuhause grenzt, ziert inzwischen - rechtzeitig zu Beginn der Touristensaison - ein handgemaltes Schild: "Taniwha Tours 2 Dollars".


 
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