© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/02 13. Dezember 2002

 
Strategie der Vernichtung von Wirtschaft und Moral
Die britische Luftkriegskonzeption war schon seit 1918 auf die Bombardierung feindlicher Städte ausgerichtet
Philipp Egert

Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg gingen die europäischen Völker 1939 ohne jede Begeisterung in den Krieg. Ein wesentlicher Grund waren die Schreckensvisionen, die in der Zwischenkriegszeit über die möglichen Formen eines erneuten Krieges entstanden waren. Hierbei hat die Luftkriegtheorie des italienischen Generals Giulio Douhet "Il dominio dell' aria", in Deutschland als "Luftherrschaft" (Drei Masken Verlag, Berlin 1935) erschienen, über die Form eines zukünftigen Krieges eine große Rolle gespielt.

Seine Argumentation war kurz gesagt die Vorstellung, daß die Landstreitkräfte nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges wegen ihrer hochentwickelten Feuerkraft nicht mehr in der Lage seien, einen Krieg zu entscheiden. Diese kriegsentscheidende Rolle falle nunmehr den neuentstandenen Luftstreitkräften zu. Während das Heer in einem statischen Grabenkrieg unbeweglich die Grenzen verteidige, würden die Luftstreitkräfte einen totalen Krieg gegen den Gegner führen, der nicht nur die Wirtschaft des Gegners, sondern seine sonstigen Ressourcen vernichten würde. Dabei werde auch die Moral der Bevölkerung durch Luftangriffe gebrochen, bis der Gegner wegen Verlustes seiner materiellen und moralischen Kraft aufgeben müsse.

Die Bombardierung Berlins wurde schon 1918 geplant

Die Vorstellung von einem zukünftigen Krieg wurde vor allem von den ehemaligen Weltkriegsgegnern Deutschlands als Luftkriegsdoktrin angenommen, die ihre Luftstreitkräfte auch entsprechen aufbauten. England verfolgte und entwickelte jedoch unabhängig von Douhet noch während des Ersten Weltkrieges eine ähnliche, aber vielleicht noch rigorosere Luftkriegstheorie, die der Royal Air Force bei ihrer Gründung im Jahre 1918 mit auf den Weg gegeben wurde. Über diesen Vorgang ist im allgemeinen wenig bekannt. Man kann sie aber einem im Jahre 1939 erschienenen Buch entnehmen. (Colston Shepherd, "The Airforce of To-Day", Blackie & Son Ltd., London and Glasgow, 1939). Das Werk, das eine Widmung des damaligen Secretary of State for Air bekam, war wohl auch als eine Art Gegenpropaganda zur Beruhigung der englischen Bevölkerung gegen die Selbstdarstellung der deutschen Luftwaffe gedacht. Sie enthält die Geschichte der Entstehung der britischen Luftstreitkräfte von Beginn an und schildert insbesondere den Zusammenschluß der fünf Squadronen des Royal Flying Corps (RCF) zur Royal Air Force (RAF), auch als Independent Force bezeichnet, im Jahre 1918. Am 1. April dieses Jahres wurde der Zusammenschluß befohlen und war am 1. Juli 1918 organisatorisch abgeschlossen.

Zweck dieser Aktion war, die britischen Luftstreitkräfte aus ihren taktischen Kriegsverpflichtungen herauszulösen und sie den vermeintlich eigentlichen Aufgaben einer Luftstreitmacht zuzuführen. Sie wurden beschrieben als "crippling of souces of supply, and the breakdown of he German Army and Government in Germany" (Lähmung des Nachschubs und dessen Produktion und die Vernichtung der Deutschen Armee und der Deutschen Regierung). Dabei ist zu bedenken, daß damals der Gaskrieg zur normalen Kriegsführung gehörte. Es bestand die Absicht, die RAF auf 60 Squadronen zu verstärken und den Luftkrieg von Frankreich und von Ungarn her auf ganz Deutschland auszudehnen. Das Projekt war technisch durch die Konstruktion und den Bau schwerer Bombertypen (Handley Page, Vickers "Vimy", Lancaster) vorbereitet worden. Sie sollten der RAF zugeführt werden und insbesondere Berlin bombardieren. Sie hätten den Höhepunkt des Versuchs dargestellt, "das deutsche Volk zu demoralisieren". Der Waffenstillstand im November kam jedoch ihrem Einsatz zuvor.

Personalisiert wurde die ganze Entwicklung durch den in den britischen Luftstreitkräften hochangesehenen Chef der Nach-Weltkriegs-RAF, Sir Hugh Trenchard, General des RFC und geadelt als Lord Trenchard. Er hat den Nachkriegsaufbau der RAF maßgebend beeinflußt und den Friedenbetrieb systematisch gestaltet. Natürlich wurden die Kriegsplanungen zu den Akten gelegt, jedoch wurde der Friedensbetrieb so gestaltet, wie es parallel beim Heer und der Marine üblich war. Garant der Kontinuität war Lord Trenchard, der bis 1930 Dienst tat.

Die RAF hatte nach dem Ersten Weltkrieg noch im kolonialen Weltreich ein Betätigungsfeld in den neuerworbenen Mandatsgebieten, so auch im Nahen Osten. Dort wurde die Doktrin des totalen Luftkrieges im Kleinversuch erprobt. Dies hört sich dann so an: "The Tribes, too, realized quickly that mischief was followed immidiately by retribution, that they had no means of hitting back, but that there was no intention of using air power harshly against them providet they would listen to reason" ( Die Stämme selbst machten sich sehr schnell klar, daß Widerspenstigkeit eine unmittelbare Vergeltung zur Folge hat und daß sie kein Mittel hätten, zurückzuschlagen, daß aber keine Absicht bestand, Luftmacht in rauher Weise gegen sie einzusetzen, vorausgesetzt sie gehorchten ihrer Vernunft.) Folgerichtig wurde in den Abrüstungsverhandlungen zwischen 1923 und 1933 der Abschluß einer "Luftkriegsordnung" durch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges kategorisch abgelehnt.

Deutschland setzte auf eine taktische Luftwaffe

Diese Militärdoktrin des totalen Luftkrieges wurde bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges durchgehalten, wie man auch an den Beschaffungsmaßnahmen der RAF zwischen den Weltkriegen erkennen kann. Die Vickers "Vimy", die übrigens den ersten Transatlantikflug realisierte, wurde von Folgetypen wie der Handley Page "Heyford" und "Hendon", der Boulton Paul "Sidestrand" und "Overstrand" sowie schließlich von moderneren Typen, wie der "Harrow" und der "Bombay" auf den bis etwa 1930 geltenden Standard ersetzt.

Anfang der dreißiger Jahre war die englische Luftrüstung in einen gewissen Verzug geraten, da man die zunächst von den USA ausgehende, durch konsequente Anwendung aerodynamischer Prinzipien ausgehende Entwicklung etwas verschlafen hatte. Auch Frankreich und Italien waren dieser Schwierigkeit ausgesetzt. Man hatte sich mit der Haltung der großen Bombertypen auch finanziell ziemlichen Lasten ausgesetzt und geriet mit der Wirtschaftskrise am Ende der zwanziger Jahre in Schwierigkeiten, diese Anstrengungen durchzuhalten. Erst recht konnte man aber nicht gleichzeitig noch eine durchgreifende Neuentwicklung finanzieren. Mit der Air Ministry Specification B.9/32 vergab England 1932 die Entwicklung eines modernen Bombers an die Industrie, die 1936 zum Erstflug der im Zweiten Weltkrieg noch sehr viel eingesetzten Vickers "Wellington" führte. Die Specification B.23/36 führte dann zur Entwicklung der viermotorigen Bombertypen Avro "Lancierter", Short "Stirling" und die der Specification B. 13/36 entsprechende Handley Page "Halifax" (alle Erstflug 1939). Diese Bombertypen standen am Anfang des Zweiten Weltkrieges noch nicht zur Verfügung und so wurde in den ersten Kriegsjahren noch mit älteren Typen geflogen, während die neuen schweren Bomber im Zulauf waren und spätestens mit Beginn der Jahres 1942 auch zum Einsatz kamen.

Im Gegensatz zum "Douhetismus" muß die Luftkriegstheorie des französischen Marine-Chefingenieurs Camille Rongeron genannt werden, der in den frühen dreißiger Jahren die Idee des unbewaffneten schnellen Heeresbegleitbombers entwickelte. Er brachte damit die an sich schon im Ersten Weltkrieg realisierte Idee der Luftnahunterstützung neu ins Spiel, zusammen mit der nun neuen Idee der Gefechtsfeldabriegelung. Während Douhet der Vater der strategischen Luftkriegsführung wurde, reduzierte Rougeron die Luftwaffe auf einen rein militärisch-taktischen Verwendungszweck.

Anfänglich hatte auch die Planung der deutschen Luftwaffe 1934 die Douhetsche Idee der strategischen Luftkriegsführung aufgegriffen und die beiden viermotorigen Bombertypen Dornier 19 und Junkers 89 in Auftrag gegeben. Schon General Walter Wever, als Planungschef der Luftwaffe Vorgänger Ernst Udets, hatte noch vor seinem tödlichen Flugzeugunfall im Jahr 1936 diese Idee wieder aufgegeben und so wurden die Projekte im gleichen Jahr wieder eingestellt. Man schuf dementsprechend eine Luftwaffe, die auf den schweren Bomber (man nannte ihn "Uralbomber") verzichtete und statt dessen zielgenauere Typen wie den Sturzkampfbomber Junkers 87, aber auch für die Gefechtsfeldabriegelung und die Bodenbekämpfung der gegnerischen Luftwaffe geeigneten Schnellbomber Heinkel 111, Dornier 17, Dornier 217, Junkers 88 beschaffte. Dies alles entsprach nicht nur einem Verzicht, sondern vor allem auch einer realistischen Einschätzung der technischen Möglichkeiten, wie zum Beispiel der Entwicklung der erforderlichen Motoren, die in Deutschland vor allem durch die Beschränkungen des Versailler Diktates auch im zivilen Flugzeugbau in Verzug geraten war.

Hitler hatte zu Beginn des Zweiten Weltkrieges keinesfalls vor, einen Luftkrieg gegen England zu führen. Dies entsprach weder seinen politischen Zielen, noch seinen technischen Möglichkeiten. So hatte er auch zu Kriegsbeginn der Luftwaffe untersagt, Ziele auf britischem Gebiet anzugreifen Dies galt noch bis in den Sommer 1940 hinein. Auch England und Frankreich waren bis dahin mit dem Überfliegen gegnerischen Gebietes sehr vorsichtig gewesen und entsprachen somit der Aufforderung Roosevelts, der als Präsident der zu dieser Zeit "neutralen" USA die Bevölkerung vor einem Bombenkrieg zu bewahren versuchte, einer Aufforderung, der alle drei Mächte öffentlich zugestimmt hatten.

Churchill setzte schließlich die Strategie in die Praxis um

Diese öffentliche Vereinbarung hat Churchill unmittelbar nach seinem Amtsantritt am 10. Mai 1940 als erster gebrochen, indem er die RAF anwies, industrielle Ziele in Deutschland anzugreifen. Es war klar, daß dies angesichts der erheblichen deutschen Jagdabwehr - die RAF hatte sie seit 1939 bei Angriffen auf die deutsche Marine in schlechter Erinnerung - nur in Form von Nachtangriffen geschehen konnte, deren Treffgenauigkeit mehr als fragwürdig war. Gleichzeitig hatte Churchills Freund, der Deutsche Friedrich Alexander Lindemann die Wirkung des als Folge der fehlenden Treffergenauigkeit eingeführten Flächenbombardements durch taktische Maßnahmen (Reihenfolge der Bombardierung mit Spreng und Brandbomben) "optimiert". Die Folge waren eine Reihe von Luftangriffen der RAF auf Ziele in Deutschland, bei denen schon Ziele ohne Rücksicht auf zivile Verluste angegriffen wurden. Schließlich erprobte die RAF die Lindemannsche Taktik "erfolgreich" an der Stadt Lübeck.

England hatte sich in der Konzeption seiner Luftwaffe somit selbst in die Zwangslage versetzt, als einzige Möglichkeit der Kriegsführung gegen Deutschland den uneingeschränkten Luftkrieg zu führen. Und das hieß bei ihrer mangelhaften Jagdabwehr und Zielortung unter den meteorologischen Bedingungen nichts anderes als den nächtlichen Luftkrieg gegen die Bevölkerung.

Foto: Air Chief Marshall Hugh Trenchard besichtigt Rekruten der Luftwaffe (1924): Bombardierung des Feindes zur "Demoralisierung"

 

Philipp Egert, geboren 1922, im Zweiten Weltkrieg Dienst bei der Abteilung Feindabwehr unter Admiral Canaris. Nach 1945 Mathematik-Studium und Tätigkeit bei der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt und bei der Zentralstelle "Operations Research" für die Nato.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen