© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/02 13. Dezember 2002

 
In der Eishölle
Kino I: "Atanarjuat- Die Legende vom schnellen Läufer" von Zacharias Kunuk
Claus-M. Wolfschlag

Atanarjuat - Die Legende vom schnellen Läufer" ist ein ungewöhnlicher Film, der mit Sicherheit nur einen sehr ausgewählten Kreis an Zuschauern, keinesfalls aber eine Massenbasis erreichen wird. Das liegt weniger am Stoff, sondern an der zähen Art seiner Inszenierung.

Der gewählte Zeit- und Ortsrahmen des Filmstoffs ist vergleichsweise selten. Die Handlung spielt in einer kleinen Siedlung in der kanadischen Arktis zu Beginn des 1. Jahrtausends. Zu einer Zeit also, in der in Europa bereits Metropolen errichtet waren, Glaubensauseinandersetzungen das gesellschaftliche Gefüge erschütterten, lebte in einer unwirtlichen Eiswüste ein Nomadenstamm der Inuit im Einklang mit der Natur und auf fast steinzeitlichem Kulturniveau. Die Nomadengemeinschaft wird durch einen unbekannten Schamanen mit einem Fluch belegt, der das harmonische Gleichgewicht der Gruppe zerstört. Eifersucht, Haß, Rachgier und Machtstreben - kurz: die negativen menschlichen Energien halten Einzug in das Gemeinschaftsleben.

Zwei Jahrzehnte gehen ins Land, bis die beiden Brüder Amaqjuaq, der Starke, und Atanarjuat, der schnelle Läufer, am eigenen Leib die Macht des Fluches zu spüren bekommen. Atanarjuat verliebt sich in die hübsche Atuat, die aber Oki, dem Sohn des Häuptlings, versprochen ist.

Nach einigem Intrigenspiel, in dem weibliche Verführungskunst und Bosheit eine große Rolle spielen, beschließt Oki zu handeln. Mit zwei Mitstreitern überfällt er die beiden schlafenden Brüder. Amaqjuaq wird dabei ermordet. Atanarjuat kann dem Gemetzel durch ein Wunder entfliehen und flüchtet nackt - verfolgt von seinen Jägern - in die Eiswüste. Der schnelle Läufer kann seine Verfolger abhängen und schleppt sich halbtot zur Behausung eines alten Schamanen.

Von hier aus wird der Entschluß gefaßt, zur Gemeinschaft zurückzukehren und dem Fluch durch Größe und Autorität ein Ende zu bereiten. Atanarjuat wird zum Richter, nicht zum bloßen Rächer, und ordnet das Leben des Stammes neu.

Der Film verfolgt einen langsamen, für moderne Menschen eher ungewohnten Erzählrhytmus. Lange Einstellungen ohne hektische Schnittechniken bestimmten die Bildwelt. Man sieht Inuit durch die Weite der weißen Schneelandschaft stapfen, sieht Schlittenhunde mit heraushängenden Zungen, den Bau von Iglus oder das Weichklopfen gefrorenen Fleisches. Der Rhythmus des Films wird also stark vom geregelten Alltag der archaischen Jägergesellschaft bestimmt.

Dabei beginnt der Streifen zäh, fast dokumentarisch und der wissende Betrachter überdenkt mit Unbehagen, daß die Langsamkeit des Streifens mit einem ausgesprochenen Widerwillen an Kürzungen, an Stringenz einhergeht: Keine 90 Minuten, die das ganze dauert, keine 120 Minuten, keine 160 Minuten. Nein, ganze 172 Minuten wird man ausharren müssen, um das letztendliche Schicksal von Atanarjuat erfahren zu können. Hier wäre weniger an Zeit weitaus mehr an Spannung und Konzentration gewesen. Doch die anfängliche Dokumentation erhält in der zweiten Hälfte des Streifens mehr erzählerischen Schwung. Die Ermordung des Bruders, die Flucht Atanarjuats über das Eis, die Zeit der Einkehr und Sammlung, die Vorbereitung der Reaktion, das schamanische Ritual - diese Erlebnisse bringen Handlung in den vorher wenig strukturiert und dokumentarisch erscheinenden Film.

Regisseur Zacharias Kunuk, selbst ein Inuit, berichtet in seinem ersten Spielfilm von einer jahrhundertealten Legende seines Volkes, die über die Generationen mündlich überliefert wurde. Zur Wahrung größtmöglicher Authentizität entschied sich Kunuk, fast ausschließlich mit Inuit zusammenzuarbeiten. Die Hälfte der Schauspieler waren Laien, was dem Film einen bisweilen naiven schauspielerischen Charme zukommen ließ. Die Deutschland-Premiere des Streifens, der in Cannes die Palme d'Or erhalten hatte, fand im Rahmen des Filmprogramms der documenta 11 in Kassel statt.

"Atanarjuat - Die Legende vom schnellen Läufer" führt in die Welt der Archaik, in der das Leben von Grundsätzlichkeiten bestimmt war: von der Nahrungssuche, vom Jagen und Sammeln, von der Wahl des Lebenspartners, von der Legitimierung der Führerschaft durch die Sippe. Zacharias Kunuk erklärte dazu: "Wir zeigen in dem Film, wie die Inuit vor Jahrhunderten gelebt haben und welche Probleme sie hatten - angefangen bei den Hochzeiten. Was passiert, wenn eine Frau einem Mann versprochen ist, das Gelübde aber bricht und einen anderen heiratet? Wir zeigen in diesem Film, wie sich unsere Vorfahren kleideten, wie sie mit ihren Schlittenhunden umgingen, wie sie stritten und feierten und wie sie harte Zeiten überlebten. (...) Als die Missionare kamen, verurteilten sie den Schamanismus als Teufelswerk. Aber sie interessierten sich nicht dafür, wie die Schamanen fühlten, wie sie Sterbende begleiteten, die Toten besuchten, Spuren fanden oder in die Lüfte aufstiegen. Als die Missionare uns ihre Religion aufzwangen, starb das Geschichtenerzählen und das Tanzen zu Trommelmusik fast aus. Unser Film 'Atanarjuat - The fast runner' ist ein Versuch, diese Traditionen wieder zu beleben."

"Atanarjuat" ist diese Aufgabe gut gelungen, trotz oder auch wegen seiner zähen, dem Betrachter viel abverlangenden Erzählweise. Seine Handlung ist im Kulturkreis der arktischen Völker angesiedelt, doch die dahinter liegende Auseinandersetzung mit ihrer Archaik, mit ihrem Wurzelgrund bei den menschlichen Ursprüngen besitzt universellen Charakter und verweist auch auf Entwicklungen unserer Kultur in Mitteleuropa.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen