© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/02 13. Dezember 2002

 
"Die Welt hat ihr Gleichgewicht verloren"
Interview: Der frühere kroatische Militärgeheimdienstchef Davor Domazet-Loso über sein Land als Spielball zwischen den Weltmächten
Carl Gustaf Ströhm

Herr Admiral Domazet, Sie haben letzten Monat ihr Buch "Kroatien und der große Kriegsschauplatz" veröffentlicht. Wie definieren Sie die gegenwärtige geopolitisch-strategische Lage Ihres Landes?

Domazet: Sieben Jahre nach dem vaterländischen Krieg ist Kroatien starkem Druck ausgesetzt, weil es sich, wie ich in meinem Buch darlege, in einem Zustand des Krieges ohne Krieg oder des Friedens ohne Frieden befindet. Kroatien liegt geostrategisch am vordersten Tor der Straße nach Eurasien. Diese führt von Kroatien durch Südosteuropa über das Schwarze Meer, den Kaukasus, das Kaspische Meer bis nach Kasachstan und weiter bis zu den Philippinen. In diesem Raum wird über die Weltherrschaft entschieden. Wer diesen Raum beherrscht, wird den Erdball regieren.

Warum ist dieser Raum so wichtig?

Domazet: Der erste Grund dafür ist das Erdöl. Aber vielleicht noch wichtiger ist das Trinkwasser. Kroatien ist eines der wenigen Länder in Europa, das über ausreichend und qualitativ gutes Trinkwasser verfügt. Es gibt aber ausländische Kräfte, in deren Interesse es liegt, Kroatien politisch zu schwächen. So soll zum Beispiel die kroatische Arbeitskraft mit jener in den anderen Südost-Ländern (Mazedonien, Albanien, dem Kosovo und Serbien), was die Lohnkosten betrifft, gleichgemacht werden. In diesem ganzen Raum soll es demnach einen durchschnittlichen Monatslohn von 150 Euro geben. Die Absicht ist, in Kroatien alles billig aufzukaufen und so die Infrastruktur des Landes zu beherrschen. In diese Richtung deuten mehrere Tatsachen: Erstens befinden sich 94 Prozent unseres Bankensystems in den Händen von Ausländern - das ist der höchste Anteil unter allen Transformationsländern. Und zweitens das Telekommunikationssystem, bei dem es sich ähnlich verhält. Das dritte Element ist das System der Energieträger. Wenn auch dies ans Ausland verkauft wird, bleibt für Kroatien kaum etwas. Da aber im Stabilitätspakt festgelegt ist, daß sowohl Grund und Boden, die Nationalparks als auch die Inseln in der Adria frei verkauft werden können, bedeutet das praktisch, daß für Kroatien nichts übrigbleibt.

Was heißt das für die kroatische Politik?

Domazet: In einer solchen Konstellation der Kräfte verfügt Kroatien, das sich in einem Prozeß der inneren Gärung und Unruhe befindet, über keine politische Option, die kraftvoll die kroatischen nationalen Interessen artikulieren und vertreten könnte.

Ihr 1999 verstorbener erster Präsident Franjo Tudjman hatte die nationalen Interessen Kroatiens klar formuliert: daß Kroatien nicht Teil des Balkans sein dürfe, zu Mitteleuropa und zum Mittelmeer gehöre und sich mitteleuropäisch und mediterran orientieren müsse.

Domazet: Im Artikel 135 der Verfassung Kroatiens steht, daß jeder Zusammenschluß oder Anschluß des Landes an irgendwelche Balkan- oder West-Balkan-Assoziationen verboten ist, weil Kroatien kulturell und zivilisatorisch - auch strategisch gesehen - ein mitteleuropäisches Land ist. Nur in diesem Kulturkreis ist es imstande, seine nationalen Interessen zu verwirklichen. Das bedeutet keineswegs, daß Kroatien keine bilaterale Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn anstreben sollte. Vor allem muß es dies mit Bosnien-Herzegowina anstreben, wo eine kroatische Volksgruppe lebt, zu deren Schutz jede kroatische Regierung verpflichtet ist. Die jetzige kroatische Regierung hat die Tudjman-Ära als Jahrzehnt der Finsternis, der Ausplünderung und des Verbrechens bezeichnet. Tudjman hatte zwei Ziele: den selbständigen Staat Kroatien und die europäische Zusammenarbeit dieses Staates, der selbstbewußt seine Identität bewahrt und aktiv in Europa mitarbeitet - zugleich aber gute Beziehungen zu seinen östlichen und südöstlichen Nachbarn unterhält.

Warum widersetzt sich die gegenwärtige kroatische Links-Regierung unter Premier Ivica Racan dieser Mitteleuropa-Orientierung? Andererseits propagiert sie doch die Europäisierung und eine Beendigung der sogenannten Isolierung des Landes?

Domazet: Hier muß man zunächst erkennen, in wessen Interesse der sogenannte "West-Balkan" ist. Es gibt Mächte im Westen, die es schwer ertragen können, daß Kroatien unabhängig wurde und daß es überdies als Sieger aus dem Krieg (1991 - 1995) hervorging. Wenn das so ist, dann muß Kroatien erneut diszipliniert und erneut gezwungen werden, in den "West-Balkan" zurückzukehren. In diesem aber würde Serbien wieder gestärkt werden - und durch Serbien könnte man dann den ganzen Balkan kontrollieren. So möchte man dann in den Kampf um die Vormacht im 21. Jahrhundert eintreten. Die gegenwärtige Regierung ist zwar durch das Volk gewählt worden, aber unter Einschaltung erheblicher ausländischer Einfluß- und Propagandazentren. Die jetzige Regierung zerstört alle staatlichen Institutionen, vom Nachrichtendienst über die Polizei bis zur Armee, die ja eine siegreiche Armee war. Man betreibt die Kriminalisierung nicht nur der Armee. Es wird die These verbreitet, der kroatische Staat sei durch Verbrechen entstanden - und folglich habe dieser Staat kein Recht auf volle Unabhängigkeit. Deshalb müsse er in eine Art neues "Euro-Slawien" eingegliedert werden. Für mich ist das ein Beispiel für das politische Spiel einiger europäischer Staaten.

Im benachbarten Slowenien gibt es auch heftige innenpolitische Kontroversen. Zugleich aber gibt es quer durch alle politischen Parteien eine Einheit bei der Verteidigung der nationalen Interessen. Warum ist das in Kroatien anders?

Domazet: Slowenien hat nicht die gleiche geostrategische Bedeutung. Kroatien hält das östliche Adria-Ufer in seinen Händen. Es hat ein größeres geostrategisches Gewicht. Deshalb ist Kroatien dem von mir im Buch beschriebenen "determinierten Chaos" ausgesetzt.

Zur Zeit wird viel über die Osterweiterung der EU diskutiert. Erwähnt werden zehn Kandidaten-Länder inklusive Sloweniens. Sogar über eine spätere EU-Mitgliedschaft Bulgariens, Rumäniens und der Türkei wird gesprochen. Nur Kroatien kommt überhaupt nicht vor. Warum?

Domazet: Bulgarien und Rumänien werden, wie kürzlich in Prag beschlossen, in die Nato aufgenommen - noch vor ihrer EU-Mitgliedschaft. Es gibt dafür einen einfachen strategischen Grund: Beide sind Anrainer des Schwarzen Meeres. Und jetzt Kroatien: Wenn Sie an die bekannte Formel "Fünf plus eins minus eins" - das heißt an eine Lösung denken, bei der Slowenien ausscheidet, aber die Teilrepubliken Ex-Jugoslawien ohne Slowenien, aber gemeinsam mit Albanien zusammengeschlossen werden, dann ist klar, daß man das gesamte Adria-Ostufer mit Serbien verbinden will, das sich seinerseits auf Bulgarien und Rumänien stützt. Damit hätte man die komplette Kontrolle des Raums verwirklicht. Warum ist das so? Weil die großen Spieler Europas auf der einen und die USA auf der anderen Seite ihre jeweiligen Interessen nicht definiert und aufgeteilt haben. Deshalb will man diese Gleichsetzung auf der Linie des geringsten Widerstandes. Wir werden also Rumänien, Bulgarien und die baltischen Staaten demnächst in der Nato sehen. Über den Rest muß man sich dann einigen oder zusammenraufen - aber die Staaten Ex-Jugoslawiens müssen gemeinsam im Paket aufgenommen werden. Das aber ist für Kroatien schwer annehmbar. Ich erwarte mir in nächster Zukunft Druck von außen, damit Kroatien den bereits erwähnten Artikel 135 der Verfassung außer Kraft setzt, wo es um das Verbot von Balkan-Assoziationen geht. Die wichtigsten Mächte haben bis heute noch nicht klar ihre Interessen in diesem Raum definiert.

Wer sind denn die wichtigsten Mitspieler in diesem Raum?

Domazet: Das sind auf der einen Seite die USA, auf der anderen Seite Frankreich und Großbritannien. Ich bin der Meinung, daß ihre Interessen nicht miteinander übereinstimmen. Das US-Interesse ist konzentriert auf eine südeuropäische Initiative, die Ungarn, Rumänien und Bulgarien umfaßt - und es gibt den "West-Balkan". Letzterer ist eher ein europäisches Projekt.

Wir würden Sie die Ziele der US-Politik in diesem Raum definieren?

Domazet: Amerika hat in diesem Raum - Bosnien, Kosovo und Mazedonien - seine Truppen stationiert. Griechenland und die Türkei sind Nato-Mitglieder. Die Weltmacht Amerika wird auch weiterhin ihre Interessen wahren. Aber das amerikanische Schwergewicht wird sich auf den östlichen Bereich der "neuen Seidenstraße" verlagern, wie ich das in meinem Buch genannt habe - also nach Zentralasien.

Welches Ziel verfolgen die Briten und Franzosen?

Domazet: Um im Spiel zu bleiben, müssen sie irgendein neues "Jugoslawien" schaffen. In der künftigen Machtverteilung wird es Europa geben - hier denke ich an den mittleren und östlichen Teil des Kontinents, ferner Rußland und die USA. Auf der anderen Seite werden Rußland, China und die zentralasiatischen Länder stehen, sowie Indien. Dann ist da noch Lateinamerika. Heute hat die Welt ihr Gleichgewicht verloren. Dieses muß wiederhergestellt werden. England und Frankreich aber können nur über den "West-Balkan" überhaupt im Spiel bleiben.

Sind Sie Anhänger der Huntington-These vom "Krieg der Zivilisationen"?

Domazet: Nicht im Sinne des klassischen Krieges der Zivilisationen. Ich glaube an eine Neuverteilung der Macht.

Wenn man in den Nahen Osten oder neuerdings nach Tschetschenien blickt, scheint sich der von Huntington vorausgesagte Konflikt doch zu verwirklichen?

Domazet: Nehmen wir Tschetschenien: da kreuzen sich zwei Erdöl-Transportwege - ein russischer und ein europäischer. Die dort lebenden Völker gehören verschiedenen Kulturen an, aber das ist nicht die Hauptursache. Die Hauptursache ist das Erdöl. Man stellt es so dar, als sei das ein Konflikt der Kulturen - aber das ist nicht wahr. Es geht um die Ressourcen der Macht: das Erdöl - und dann das Trinkwasser. Die jetzige Annäherung zwischen Rußland und Amerika bestätigt meine These einer neuen Teilung der Welt - diesmal so, daß Amerikaner und Russen auf der gleichen Seite stehen werden. Die Teilung vor dem Fall der Berliner Mauer vollzog sich zwischen West und Ost, entlang des Längengrades. Jetzt wird sie auf einem Breitengrad vollzogen: also Nord-Süd.

Welche Rolle kann Europa spielen?

Domazet: Europa kann ein wesentlicher Mitgestalter sein, wenn es die Vielfalt seiner Nationen bewahrt. Europa kann nie ein Bundesstaat sein, sondern nur ein Bund verschiedener Staaten. Aber ein solches Europa sehe ich bis jetzt noch nicht. Der Globalismus zerstört die Vielfalt und den Reichtum Europas. Der alte Kontinent wurde vernichtet, als man sein Herz, seinen Mittelpunkt - eben Mitteleuropa - zerstörte, erst durch den Ersten, dann den Zweiten Weltkrieg. Es muß also zu dieser europäischen Annäherung kommen - aber es darf nichts aufgezwungen werden. Man muß einfach die Notwendigkeit erkennen, in der Gemeinschaft die Identität jedes einzelnen zu wahren.

Kroatien ist unmittelbarer Nachbar der islamischen Welt. Stellt der Islam eine Gefahr oder Bedrohung dar?

Domazet: Darüber müßten die Westeuropäer mehr nachdenken als die Kroaten, man denke nur an das Problem der Nordafrikaner in Frankreich oder der Türken in Deutschland. Das Problem ist heute, daß Europa in der Gefahr schwebt, seine Identität zu verlieren.

Was hat es mit dem kroatischen Nationalismus auf sich?

Domazet: Eine der großen Krankheiten Kroatiens ist das "kroatische Schweigen". Es entstand im Jahre 1971, als der "kroatische Frühling" durch Tito niedergeschlagen wurde. Dieses Schweigen wiederholt sich heute. Unser "Vaterländischer Krieg" wird kriminalisiert. Kroatien hatte lange Zeit keinen eigenen Staat und vielleicht ist es unser Problem, daß unsere intellektuelle Elite manchmal keinen Zugang zum eigenen Staat findet, weil sie gewohnt war, so viele Generationen hindurch fremden Interessen zu dienen. Es wird eine bis zwei Generationen brauchen, bis eine intellektuelle Elite entsteht, die im Sinne der kroatischen Unabhängigkeit arbeitet. An erster Stelle aber muß die Definition unserer nationalen Interessen stehen.

 

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