© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/02 13. Dezember 2002


"Der Wert eines Zivilisten ist Null"
Der US-Politologe Marc Herold über die amerikanische Luftkriegführung gestern und heute am Beispiel Afghanistans
Moritz Schwarz

Herr Professor Herold, Sie sammeln alle verfügbaren Daten über den Luftkrieg der USA gegen die Taliban im November letzten Jahres in Afghanistan, um den Bildern des Pentagon von erhaben am Himmel dahinziehenden Kampfflugzeugen Informationen über die Wirkung dieses Krieges am Boden gegenüberzustellen. Der gleichen Ansatz, den auch der deutsche Historiker Jörg Friedrich in seinem Buch "Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940 - 1945" gewählt hat, das in Deutschland und Großbritannien eine Debatte über den alliierten Luftkrieg gegen Deutschland ausgelöst hat.

Herold: Die Luftkriege bis zum Golfkrieg 1991 zielten darauf, mit strategischen Bombardements den Kampfeswillen des Gegners zu brechen. Man gab nicht vor, dabei Rücksicht auf Zivilisten zu nehmen. Dresden, Hiroshima und Nagasaki waren die "Höhepunkte" dieser Strategie. Seit 1991 geht es darum, als Vorbereitung auf eine Invasion die militärische Infrastruktur des Gegners zu zerstören, dennoch mußten auch hier Zivilisten den Preis zahlen. Ich finde es faszinierend, in dem Historiker Jörg Friedrich nun einen weiteren Wissenschaftler zu finden, der sich der Betrachtung des Bombenkrieges "von unten" widmet. Denn aus dieser Perspektive erzählt sich die Geschichte ganz anders, als aus der der "Sieger".

Demzufolge steht die amerikanische Luftkriegstrategie von heute in ihrer moralischen Dimension in der Tradition der Bombardierung deutscher und japanischer Städte im Zweiten Weltkrieg?

Herold: Es existiert eine deutliche moralische Äquivalenz, denn damals wie heute wird das Leben der Angehörigen des gegnerischen Volkes als wertlos betrachtet.

Es führt also ein "direkter Weg" von Dresden 1945 nach Afghanistan 2001?

Herold: Ja, denn der Mangel an Unrechtsbewußtsein ist nicht nur ein Problem unserer Streitkräfte, sondern des amerikanischen Volkes überhaupt, das die Wirkung seiner Kriegführung im Zweiten Weltkrieg nie überdacht hat. Die logische Folge waren die hemmungslosen Bombardements in den folgenden Kriegen, die Idee McArthurs, in Korea die Atombombe einzusetzen, die Strategie des "Zurück in die Steinzeit"-Bombens in Vietnam und die verheerenden Geheimbombardements in Laos und Kambodscha. Der Grund für die viel geringere Opferzahl in Afghanistan ist lediglich, daß hier nur ein Bruchteil der Bombenlast vorangegangener Kriege abgeworfen wurde. Wenn Sie aber die Menge der eingesetzten Munition mit der Zahl der Opfer verrechnen, so ist die Bilanz für Afghanistan ebenso finster, wie die für Indochina. Und um die Verhältnisse zu verdeutlichen: Das US-Bombardement von Kambodscha, Laos und Vietnam forderte 2.000 Tote pro 10.000 Tonnen Bomben, während es beim Luftkrieg gegen Deutschland 5.000 Tote pro 10.000 Tonnen waren. Doch wie schon im Luftkrieg gegen Deutschland und Vietnam, so hat in den USA auch in Afghanistan kaum jemand berichtet, wie es am Boden aussah. Die Menschenverluste, ebenso übrigens wie die Schäden für die Umwelt, dürfen aber nicht erneut ausgeblendet werden.

Deshalb sammeln und veröffentlichen Sie seit November 2001 alle zivilen Opfer der Luftoffensive in Afghanistan im Weltnetz.

Herold: Für das Projekt "AfghanDailyCount" werte ich alle Informationen über zivile Opfer aus und stelle sie zu einer Verlustliste zusammen, die Rechenschaft über Zeitpunkt, Ort und Art jedes einzelnen Vorfalles gibt, die Zahl der getöteten Zivilisten, eingesetzten Waffen und auch die Informationsquelle nennt, um unsere Liste transparent und nachvollziehbar zu machen.

Wieviele zivile Opfer haben Sie gezählt?

Herold: Etwa zwischen 3.100 und 3.600, also mehr als die etwa 3.000 amerikanischen Opfer vom 11. September.

Wie hoch ist die Zahl der getöteten Zivilisten in Afghanistan laut Angaben des Pentagon?

Herold: Man hat nie konkrete Zahlen veröffentlicht. Statt dessen hat man in Zusammenhang mit einzelnen Vorfällen unbestimmte Zivilverluste eingeräumt. Rechnet man diese Vorfälle zusammen, kommt man lediglich auf etwa 50 Tote.

Wie verläßlich sind Ihre Informationen? Sie befinden sich in Amerika, woher wissen Sie, was in Afghanistan vor sich geht?

Herold: Wir werten einfach die Berichterstattung der internationalen Pressevertreter vor Ort aus. Wir haben also dieselbe Informationsgrundlage wie Sie oder jeder andere westliche Bürger. Ich vertraue den Berichterstattern, auf die wir uns stützen, denn es sind Journalisten mit Reputation. Ich habe nie behauptet, im Besitz exklusiver Informationen zu sein. Ich schenke lediglich Informationen Gehör, die anderswo keine Aufmerksamkeit finden, überprüfe sie und versuche sie durch eine möglichst genaue Schilderung aller Umstände transparent zu machen. Tatsächlich veröffentliche ich nur Zahlen, die ich auch belegen kann, in Wahrheit sind die Zahlen wohl viel höher.

Wie hoch schätzen Sie die Dunkelziffer?

Herold: Auf 5.000 bis 6.000 zivile Opfer, aber dafür habe ich keine Belege.

Nicht mit eingerechnet diejenigen, die indirekt Opfer der Luftangriffe wurden.

Herold: Die belegten 3.100 bis 3.600 Opfer sind eine sehr strenge Zahl, denn wir zählen in der Tat nur die nachweisbaren, direkt getöteten Menschen. Wir wissen aber, daß auf jeden Getöteten zwei Schwerverletzte kommen. Und wir wissen, daß das afghanische Gesundheitssystem zusammengebrochen ist. Die Krankenhäuser haben keine Elektrizität, da die Kraftwerke bombardiert wurden, die Krankenwagen haben keinen Treibstoff, da die Ölversorgung bombardiert wurde, und es gibt keine Medikamente, weil die zur Versorgung notwendige Infrastruktur bombardiert wurde. Wir wissen, daß in Folge dessen in den Krankenhäusern Operationen ohne Betäubungsmittel durchgeführt werden mußten - wenn überhaupt noch jemand zum Operieren da war, denn viele Ärzte und Angehörige des Sanitätspersonals sind vor den Bombenangriffen und den drohenden Kämpfen geflohen. Ergo mußten zehn bis zwanzig Prozent der Verwundeten, die hätten gerettet werden können, schließlich doch sterben. Dazu kommen jene, die von den überall herumliegenden Blindgängern der Bündel-Bomben getötet wurden und noch getötet werden. Die Zahl dieser Opfer erhöht sich auch jetzt noch, denn die Blindgänger werden, wenn überhaupt, so schnell nicht geräumt. Desweiteren sind da jene, die an einer Vergiftung durch abgereichertes Uran erkranken, das die US-Armee für ihre panzerbrechende Granaten verwendet. Die Leute sterben nicht unbedingt, werden aber unheilbar krank. Das aber hat in Afghanistan - das muß man sich stets vor Augen halten - eine ganz andere Bedeutung als in Europa oder Nordamerika. Afghanistan ist ein zu 85 Prozent agrarisches Land. Wenn hier ein Bauer einen Arm oder ein Bein verliert oder unheilbar krank wird, dann "war's das"! Wieviele Afghanen dieses Schicksal ereilt hat, können wir uns an Hand der von uns dort zum Einsatz gebrachten Waffen und den Orten, die damit unter Feuer genommen wurden, ausrechnen.

Weiterhin weisen Sie daraufhin, daß auch unter den von den USA legitim getöteten Kombatanten im Prinzip "Zivilisten" waren?

Herold: Die Trennung zwischen Zivilisten und Soldaten ist in Afghanistan nicht so einfach wie bei uns im Westen. Denn die Taliban haben zahlreiche Bauern in die Truppe gelockt oder einfach gepreßt, da sie für ihren Kampf im Stile des Ersten Weltkrieges viele Soldaten brauchten. Diese Bauern bekamen meist ein altes Gewehr in die Hand gedrückt und waren damit "Soldaten". Unter den schätzungsweise 8.000 bis 10.000 getöteten afghanischen Soldaten waren wohl viele von dieser Art.

Handelt es sich bei den regulären Ziviltoten tatsächlich ausschließlich um sogenannte "Kollateralschäden" oder hat man auch gezielt versucht, Zivilisten zu treffen?

Herold: Ich sage nicht, daß man gezielt Zivilisten ins Visier genommen hat. Aber es ist, als hätte man es im Hinterkopf gehabt. Eine A 1.000 JDAM-Bombe auf einen Panzer in einem Wohngebiet zu werfen, bedeutet zwangsläufig, Zivilisten zu treffen. Vor allem wenn die Angriffe Nachts erfolgen, wenn die Menschen zu Hause in ihren Betten sind und angesichts dessen, daß die Häuser der Afghanen lediglich aus Ziegeln gebaut sind. Verdächtig erscheint mir zudem die hohe Zahl an Bombenfehlwürfen. Sean Moorehouse, ein UN-Experte, verglich die Zielkoordinaten der Air Force mit den Trefferkoordinaten und kam zu dem Schluß, daß die Richtigkeit der Zahlen, angesichts einer Abweichung von bis zu vier Meilen, "sehr zweifelhaft" sei. Man kann also sagen, daß die Argumentation, bei einem solchen Bombenangriff keine Zivilisten treffen zu wollen, der Rechtfertigung eines betrunkenen Autofahrers entspricht, er sei ohne Schuld, weil er ja nicht geplant habe, jemanden über den Haufen zu fahren. Die Realität ist die: Der Wert eines afghanischen Zivilisten aus der Sicht der amerikanischen Militärs ist gleich Null! Es ist egal, ob ein afghanischer Zivilist lebt oder stirbt. Wenn er im Weg steht, ist es, als wäre das Schußfeld dennoch frei. Einzige Bedingung ist, der Tod dieses Menschen darf für die Amerikaner zu Hause nicht zu sehen sein, denn die Amerikaner mögen es nicht, wenn jemand verletzt wird oder gar sterben muß. Deshalb die stillschweigende Vereinbarung zwischen den Streitkräften, der Politik und der Presse, nur materielle Zerstörung, aber keine toten Menschen zu zeigen.

Werten Sie also den gesamten Feldzug als ein Kriegsverbrechen?

Herold: Wenn Sie die Frage im klassischen Sinne stellen, dann glaube ich, überstrapazieren Sie das Wort "Kriegsverbrechen". Es gibt aber sehr viele - und ich betone: sehr viele - Vorfälle im Verlauf des Feldzuges, die vermutlich als Kriegsverbrechen klassifiziert werden können - denn sie verletzen die Prinzipien des Kriegs- und Völkerrechts. Wenn man also nicht mit dem Feldzug als solchem, sondern mit der Menge der vermutlich kriegsverbrecherischen Vorfälle argumentiert, und Ihre Frage als auf die Summe dieser Vorfälle abzielend begreift, dann ist sie doch mit "ja" zu beantworten.

Deutsche Politiker loben dagegen den Feldzug als Sieg der Zivilisation und der Freiheit.

Herold: Leider waren vor allem die deutschen und englischen Politiker besonders gefolgsam gegenüber den USA, aber dennoch gab und gibt es dort auch viele Menschen, die dem ganzen sehr kritisch gegenüberstehen. Tatsächlich ist die Bewegungsfreiheit, die Freiheit der Frauen und die Sicherheit vor Polizeiwillkür nicht wesentlich größer geworden seit dem Sturz der Taliban. Aber die Armut, das Unwesen der Kriegsherren und der Kampf ums Überleben sind so schlimm wie früher. Oh, natürlich gibt es jetzt auch den ersten Schönheitssalon in Kabul, und vermutlich wird bald auch ein Hyatt-Hotel eröffnet, aber man darf nicht vergessen, daß das unerreichbar für fast alle Afghanen bleibt. Wir "Westler" denken in Hauptstadtkategorien, als läge Afghanistan in Europa, aber Kabul ist nicht Afghanistan - das zeigt aber nur, wie blind wir gegenüber den wahren Verhältnissen in diesem Teil der Welt sind. Glauben Sie denn, für die Frauen außerhalb Kabuls hätte sich das Leben mit der Machtübernahme der Taliban verändert? Nicht im geringsten. Und genausowenig hat es sich mit deren Entmachtung verändert. Denn Herr Karzai ist kein Präsident, er ist nicht einmal ein Bürgermeister, denn nicht einmal Kabul haben seine Leute unter Kontrolle. Diese "Regierung" repräsentiert in keiner Weise Volk und Land. Tatsächlich vermute ich, daß die Karzai-Administration Afghanistan sogar noch weniger repräsentiert als das Taliban-Regime. Das Ganze ist für die Vereinigten Staaten eine Strategie der Niederlage auf Raten.

Die Chefin der Grünen-Partei in Deutschland, Claudia Roth, propagierte, man habe die Frauen Afghanistans befreit und rechtfertigt so vor ihrer tendenziell pazifistischen Klientel die ideelle, diplomatische und militärische Unterstützung des Feldzuges durch die rot-grüne Bundesregierung.

Herold: Solche Aussagen sind der pure Unsinn und für einen Politiker in führender Stellung unverständlich. Ich bin kein Freund der wahhabitischen Religionsgesetze, aber die Liberalen im Westen, insbesondere die Frauenlobby, legt viel zu viel Wert auf die Frage der Burka. Man geht davon aus, tragen die Frauen dort Miniröcke, dann sind sie befreit, tragen sie die Burka, dann sind sie unterdrückt. Wie naiv, kann ich da nur sagen! Wenn jetzt "der Westen" in Kabul Einzug hält, werden sich neue Formen der Ausbeutung etablieren, denken Sie zum Beispiel an das Problem sexueller Ausbeutung in vielen Ländern Asiens. Man wechselt lediglich eine Unterdrückung durch eine andere aus, und die Politiker verkaufen uns das als Fortschritt.

Im zweiten Golfkrieg von 1991 ist die Höhe der zivilen Opfer nie offiziell gezählt worden, weder das Pentagon noch Saddam Hussein hatten ein Interesse daran. Der nun von Präsident Bush geplante Feldzug soll erst mit der Eroberung Bagdads enden. Eine gewaltige Luftoffensive ist zu erwarten. Mit wievielen zivilen Opfern rechnen Sie?

Herold: Nach Schätzungen unabhängiger Institute hat das alliierte Bombardement im Golfkrieg von 1991 zwischen 3.000 und 15.000 zivile Opfer, am wahrscheinlichsten ist die Zahl 5.000, gefordert. Nach einer Schätzung der "Medical Association for Prevention of War" wird der kommende Golfkrieg aber in den ersten drei Monaten zwischen 48.000 und 260.000 irakische Zivilisten das Leben kosten. Denn erstens werden die Iraker nicht erneut den Fehler begehen, ihre Truppen in offener Feldschlacht zu exponieren, sondern sie werden sie in den Städten verschanzt halten. Der Häuserkampf ist aber nicht nur für alle beteiligten Truppen besonders verlustreich, sondern auch, was die zivilen Opfer angeht. Zweitens, Afghanistan ist nur zu 21 Prozent urbanisiert, der Irak aber zu 77 Prozent. Ein Luftkrieg gegen dieses Land bis zur Eroberung seiner Hauptstadt Bagdad wird also ungleich verhängnisvoller für das irakische Volk sein, als die Eroberung Kabuls im dezentralisierten Afghanistan für die Menschen dort.

 

Prof. Dr. Marc Herold ist Wirtschaftswissenschaftler und Politologe an der Universität von New Hampshire/USA. Der 1943 in Los Angeles/Kalifornien geborene Wissenschaftler sammelt seit dem Beginn des US-Feldzuges in Afghanistan alle Informationen über zivile Opfer der Luftoffensive und veröffentlicht diese in einem täglichen "AfghanDailyCount" im Weltnetz. (http://pubpages.unh.edu/~mwherold/). Bereits vor dem 11. September und dem Krieg gegen die Taliban hat Herold begonnen, sich mit dem Land am Hindukusch zu beschäftigen. Derzeit schreibt er an einer Wirtschaftsgeschichte Afghanistans als Beispiel für das Scheitern westlicher Modernisierungstheorien. Im März erscheint in den USA die Auswertung seines "AfghanDailyCount"-Projekts in Buchform unter dem Titel "Blown Away. The Myth and Reality of Precisons Bombing"

 

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