© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/02 06. Dezember 2002

 
Die falsche Waffe des Vergleichs
Analogien zu Brüning und Honecker sind unpassend - eine Orientierung an Stein und Hardenberg wäre zeitgemäßer
Stefan Scheil

Er hat es wieder getan. Arnulf Baring hat einmal mehr öffentlich die deutsche Krise beschworen und ziemlich direkt zum Steuerboykott und zum Gang auf die Straße aufgerufen, diesmal in der FAZ.

Schon seit längerem fällt Baring mit seinen Bemühungen auf, den Deutschen ins Gewissen zu reden und mehr noch mit seinem unbefangenen Patriotismus, der dabei zum Ausdruck kommt. Er dürfte der einzige prominente Historiker sein, der an die nationalpolitische Tradition der deutschen Geschichtswissenschaft anknüpft, die, lange ist es her, einmal so etwas wie Meinungsführerschaft in der deutschen Öffentlichkeit für sich beanspruchen konnte. Baring hat damit auch wenigstens insoweit einen nicht unbeachtlichen Erfolg, als er regelmäßig ein Presseecho hervorruft und in den Standard-Talkshows des Wochenendes auftreten kann.

Begrenzter Horizont, wenn es um historische Vorbilder geht

Des politisierenden Historikers Hauptinstrument ist naheliegenderweise fast immer der historische Vergleich gewesen. So jetzt auch bei Baring, aber nicht nur bei ihm: die historische Analogie hat derzeit in der Politik überhaupt eine besondere Konjunktur. Es wird verglichen, ob nun Oskar Lafontaine bei seinem Parteigenossen Schröder Ähnlichkeiten mit Reichskanzler Heinrich Brüning entdeckt oder Helmut Kohl gar ein Bezug zwischen Wolfgang Thierse und Hermann Göring aufgefallen sein soll. Die Republik blickt auf das Zwanzigste Jahrhundert zurück. Wenn Baring nun also ebenfalls eine Linie bis in die Weimarer Zeit oder das Jahr 1989 zieht, befindet er sich in etablierter Gesellschaft.

Bundesrepublikanisch geprägt wie sie ist, zeigt diese Sichtweise einen spezifisch begrenzten historischen Horizont, gerade wenn es um Vorbilder für notwendige Veränderungen geht. In einer Zeit, in der soviel von Reform die Rede ist, daß man das Wort schon gar nicht mehr hören mag, ist von erfolgreichen Reformern wie dem Freiherrn v. Stein oder dem Staatskanzler Hardenberg praktisch gar nicht die Rede. Die preußischen Reformen nach 1804, deren Überlieferung als historisches Ideal zweifellos den Hintergrund für die allgemeine Reformgläubigkeit in Deutschland bildet, sind aus der öffentlichen Debatte so gut wie verschwunden. Dabei wäre ein Blick in diese Richtung auch deshalb hilfreich, weil damit ausnahmsweise einmal vergegenwärtigt werden könnte, was alles erreicht werden kann, statt darüber zu lamentieren, was alles verlorenging oder zu gehen droht. Ein vereintes und freies Deutschland blieb für Stein ein lebenslanger Traum.

Statt dessen wird allerorts einmal mehr die jüngere deutsche Vergangenheit bemüht, eben besonders die Jahre 1930 und 1989. Wer mit diesem Verweis auf die Gefahr einer bevorstehenden innenpolitischen Systemkrise aufmerksam machen möchte, der geht jedoch offenbar in die Irre. Sie sind nun einmal gutmütig und geduldig, die Deutschen. Es muß schon sehr viel passieren, damit sie auf die Barrikaden gehen, und Deutschland im Jahr 2002 ähnelt weder der restlos ausgeplünderten und hungernden Weimarer Republik von 1930, noch der späten DDR. Niemand, der in den achtziger Jahren nach Brandenburg oder Sachsen gefahren ist und dort den Zorn und den Überdruß der Menschen darüber erlebt hat, "Der Doofe Rest" zu sein, kann annehmen, es gebe in der Bundesrepublik eine vergleichbare Situation. So ernst hat es ja auch Arnulf Baring nicht gemeint, wie er bei Sabine Christiansen gleich richtigstellte. Den offenen Aufstand wolle er nicht proben, sagte er. Nun hatte er aber gerade dazu erst wenige Tage vorher in der immer noch angesehenen FAZ aufgerufen. Dieser schnelle Rückzieher zeigt, wie sehr selbst Baring trotz seiner Einsichten ein Teil der tagtäglichen öffentlichen Beliebigkeit geblieben ist, die für deutsche Verhältnisse beispiellos sein dürfte und sich jedem historischen Vergleich entzieht.

Auf der Suche nach den Ursachen für diesen Zustand fällt eins besonders ins Auge. Dieser einzigartige deutsche Unernst hat eine einzigartige Basis, nämlich die der außenpolitischen Sicherheit. Als Stein seine Reformen ansetzte, war Deutschland zerschlagen und besetzt und als sich dies nach 1870 geändert hatte, gab es im Aus- und Inland immer eine ansehnliche Liste von Gegnern der deutschen Einheit. Zeit seiner Existenz ist deshalb der deutsche Nationalstaat auf der Suche nach ernstzunehmenden und ehrlichen Verbündeten gewesen, vor 1945 immer erfolglos.

Mittlerweile läßt sich die Zahl der Verbündeten kaum noch überblicken. Es wäre zudem müßig, sie im einzelnen aufzuzählen, verblassen sie doch alle vor jenem einen Verbündeten, der letzten verbliebenen Supermacht höchstselbst. Über deren Politik kann man sagen, was man will, sollte jedoch immer bedenken, daß sie ihren ganzen politischen Einfluß in die Waagschale geworfen hat, um Deutschlands europäischen Freunden die Zustimmung zur deutschen Einheit in den gegenwärtigen Grenzen abzutrotzen. Man hatte sich in Washington damals viel von dieser Einheit versprochen, aber der ins Auge gefaßte "partner in leadership" ließ seiner Wiedervereinigung statt dessen eine im Rückblick atemberaubende Implosion staatlicher Handlungsfähigkeit folgen, begonnen mit dem völligen Zerfall der militärischen Fähigkeiten, fortgesetzt mit der Aufgabe jeder wirtschafts- und finanzpolitischen Autonomie und abgerundet mir einer geradezu systematischen Ignoranz gegenüber den dringendsten, innenpolitisch notwendigen Maßnahmen der Selbsterhaltung.

Wenn sich daraus ein Schluß auf die innenpolitischen Befindlichkeiten Deutschlands ziehen lassen sollte, fällt er eindeutig aus. Mit dem scheinbaren Ende der außenpolitischen Bedrohungssituation hat Deutschland an innerer Dynamik verloren. Folgerichtig reproduziert sich so eine politische Klasse, der außer der staatlichen Selbstauflösung in organisierte Verantwortungslosigkeit jede Zukunftsvision fehlt. Das hat auch mit dem verkürzten Blick in die Vergangenheit zu tun. Um einen Aufstand zu begründen, wie Baring ihn angedeutet hat, sollte man auch einmal weiter zurück an die preußischen Reformer denken, wenigstens etwas Ernst ließe sich dort abschauen.

Gerhard von Scharnhorst, Freiherr Karl August von Hardenberg und Reichsfreiherr Karl vom und zum Stein: Konstruktiver Aufstand


 
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