© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/02 06. Dezember 2002

 
Das verlorene Gleichgewicht
Philosophie: Ludwig Klages thematisiert in seinen Werken das Verhältnis zwischen Geist und Seele
Jens Grunwald

Mahner der Veränderung rufen in die Leere, ihre Worte verhallen unverstanden. Verworfen und verfremdet ist auch das Werk von Ludwig Klages, verfemt der Denker, der nach Nietzsche als der letzte große deutsche Philosoph gelten muß. Seine Erkenntnisse sind Wissen um das Leben, und ihre Ablehnung kann nur der völligen Blindheit entleerter Massen entstammen.

In Hannover am 10. Dezember 1872 geboren, studierte Klages Chemie und später Philosophie in Leipzig, Hannover und München. Er promovierte 1901, als er innerlich sich schon längst von den mechanistischen Naturwissenschaften entfernt hatte und dem Urquell des Lebens nachforschte. In Schwabing, dem Münchner Aussteigerviertel der Jahrhundertwende, wurde sein Name bekannt als der Runde der "Kosmiker" zugehörig - die neben Klages und den an die Lehren des Matriarchatstheoretikers Johann Jakob Bachofen anknüpfenden Mysterienforscher Alfred Schuler auch zeitweise den prophetischen Dichter Ludwig Derleth sowie Karl Wolfskehl und Stefan George umfaßte. George war bereits mehrere Jahre von Klages fasziniert und wurde von diesem 1902 in einem Buch porträtiert, das Klages weniger als Monographie denn als erste Grundlegung seiner Weltanschauung ansah. Er ahnte wohl schon beim Verfassen des Buches dessen Mißdeutung und kämpfte noch Jahrzehnte später gegen die Ansicht, er habe dem George-Kreis angehört. Denn schon 1904 brach Klages alle Beziehungen zu George und Wolfskehl ab.

In den Jahren seit 1897 widmete sich Klages mit der zusammen mit dem Psychiater Georg Meyer und dem Bildhauer Hans Hinrich Busse gegründeten Deutschen Graphologischen Gesellschaft der wissenschaftlichen Schriftdeutung. Von 1900 bis 1908 gab er die Graphologischen Monatshefte heraus. Klages führte die Graphologie aus dem Dunstkreis der okkulten Gewerbe zur Wissenschaft und faßte seine umfangreichen Erkenntnisse in den "Problemen der Graphologie" und den "Prinzipien der Charakterologie" (beide 1910) zusammen, mit denen er zwei Wissenschaften begründete: die Ausdruckslehre und die Charakterkunde. Mit diesen Werkzeugen ermöglichte er der Psychologie, das Äußere des Menschen als Widerspiegelung seines Inneren zu verstehen - eine erscheinungswissenschaftliche Menschenkunde, die nicht deterministisch-mechanistisch vom Sexus ausgeht, sondern die Seele als Grundlage ihres Forschens betrachtet.

Der entseelte Mensch feiert seinen eigenen Untergang

Seine seelenkundlichen Arbeiten der folgenden Jahre - "Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft" (1913; 1923 als "Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck"), "Vom Wesen des Bewußtseins" (1921), "Die Grundlagen der Charakterkunde" (1926) - bauen, anknüpfend an die Romantik (vor allem an den Arzt und Philosophen Carl Gustav Carus, den Klages wiederentdeckte), diese Wissenschaft vom Menschen aus. Graphologische Werke erweitern diesen Gesichtskreis, vor allem "Handschrift und Charakter" (1917).

Daneben entstehen weniger wissenschaftliche, mehr philosophische Werke: Die Anklage des Fortschritts "Mensch und Erde" (zuerst 1913 als Sonderdruck für ein Treffen der Freideutschen Jugend auf dem Hohen Meissner verfaßt) und sein dichterischstes Werk "Vom kosmogonischen Eros" (1922), das die Welt aus dem Erosbegriff des Altertums, als Ruhen im All-Sein, aus rauschhaftem Erleben, deutet. Klages' bedeutendes Nietzsche-Buch "Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches" (1926) lohnt es sich wiederzuentdecken.

Alles Veröffentlichte weist den Weg zu seinem Hauptwerk, an dem er nahezu zwei Jahrzehnte arbeitete und das 1929/1932 unter dem Titel "Der Geist als Widersacher der Seele" erschien. Eine schlagwortgeneigte Zeit warf Klages aufgrund dieses Titels "Geistfeindschaft", d.h. die Bekämpfung des Intellekts vor. Die gängige Einordnung von Klages als "Kulturpessimist" enstpricht dabei der bornierten Entsorgung von Gedanken, die der eigenen Bequemlichkeit zuwider laufen. Klages zeigt in den drei Bänden eine Strukturverschiedenheit zwischen Geist und Seele auf, die Unmöglichkeit des Lebens unter der alleinigen Herrschaft des Geistes.

Seine frühen dichterischen Werke und Versuche, Notizen, Entwürfe (insbesondere das tiefe Fragment "Hestia. Entwurf der Metaphysik des Heidentums" von 1903) sowie einige Briefe ordnete Klages bereits 1915 zur Herausgabe als seinen Nachlaß, der dann 1944 unter dem Titel "Rhythmen und Runen" erschien.

Neben mehreren kleineren Arbeiten in den Nachkriegsjahren setzte er 1948 den Schlußstein zu einem seit Jahrzehnten geplanten Geistesbau mit dem Werk "Die Sprache als Quell der Seelenkunde". Schwer leidend, arbeitete er noch an der Verbesserung seines Hauptwerkes, konnte diese Umarbeitung aber, von kleineren Änderungen abgesehen, nicht mehr durchführen. Am 29. Juli 1956 verstarb Ludwig Klages in Kilchberg bei Zürich, seinem Wohnort seit 1919.

Klages gab der Philosophie, die zweitausend Jahre sich im Kreise drehte, eine neue Wendung. Der Vorwurf der Traditionslosigkeit verpufft ebenso wie jener der irrationalen Spekulation: Einerseits steht Klages in der Folge der antiken Philosophie (Heraklit), zum anderen verärgert seine Gegner Klages' Unangreifbarkeit, denn seine Philosophie wird untermauert durch Wissenschaftlichkeit.

Das verlorene Gleichgewicht zwischen Geist und Seele ist das Problem des Lebens, die mangelnde Eingliederung des Geistes in das Leben ist das Übel des Menschen. Das Absterben der Seele, die Vernichtung des Erlebenkönnens, des Empfindens, der alles zergliedernde Verstand, der Wille - der Mensch, der als Herrscher der Erde ihre Zerstörung betreibt, ist die Vernichtung des Lebens. Nicht "der Mensch", "die Natur" oder "die Erde" werden ausgelöscht, sondern das Leben selbst. Der entseelte Mensch als empfindungslose Maschine feiert seinen eigenen Untergang.

In dem Nachruf von Wilhelm Hager heißt es: "Das kulturkritische Werk von Klages, viel belächelt und verlästert, ist und bleibt der Ausgangspunkt für alle künftige kulturelle Neugestaltung. Wer wirklich aus einem tieferen Zwang an der Neuordnung der Dinge, an der 'Rettung des Abendlandes' mithelfen will, der wird sich in erster Linie bei Klages Rat erholen müssen."

 Ludwig Klages (1902): "Dem Leben ein Monument errichten"

 Die Gesamtausgabe der Werke von Ludwig Klages ist in acht Bänden und einem Registerband im Bouvier Verlag, Bonn, erschienen.


 
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