© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/02 06. Dezember 2002

 
LOCKERUNGSÜBUNGEN
Konsumkritik
Karl Heinzen

Gerhard Schröder kann die historischen Leistungen Helmut Kohls nicht ungeschehen machen. Die postindustrielle Gesellschaft ist für viele Regionen unseres Landes, vor allem, aber nicht nur im Osten, Wirklichkeit geworden. Die Bevölkerung hat begriffen, daß Flexibilität im Beruf und eine Sicherstellung des individuellen Lebensgenusses bei ungewissen Zukunftserwartungen nur durch eine adäquate Familienplanung zu gewährleisten sind. Der Erkenntnis, in einem Einwanderungsland zu leben, ist der Schrecken genommen.

Diesen einmal eingeschlagenen Modernisierungspfad kann selbst eine rot-grüne Regierung, so sehr sie auch in ihrem Verständnis von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit im 19.Jahrhundert verwurzelt sein mag, nicht mehr verlassen. Sie muß sich darauf beschränken, Anlässe, Sand ins Getriebe der Marktgesellschaft zu streuen, abzuwarten und zu nutzen, um auf diese Weise wenigstens hin und wieder Aufmerksamkeit für Werte der Gemeinschaft zu wecken.

Die Anregung von Franz Müntefering, die Konsummöglichkeiten der Bürger gegebenenfalls zu beschränken, um dem Staat mehr Handlungsspielraum zu verschaffen, ist daher weniger als ein ökonomischer Ratschlag zu begreifen, sondern als Mahnung an die Menschen, sich rechtzeitig andere als materielle Ziele für ihr Leben zu setzen. Natürlich kann durch eine Senkung des privaten Verbrauchs kein wirtschaftlicher Umschwung bewirkt werden. Im Gegenteil: Ein weiterer Rückgang der Binnennachfrage würde die Depression nur noch verschlimmern. Dies weiß jeder Ökonom, und dies weiß natürlich auch Franz Müntefering, da es sich hier um ein altes Argument der Sozialdemokratie handelt, die den Arbeiter so dem Unternehmer zwar nicht als Mensch, aber doch als Verbraucher wieder ans Herz legen wollte. Wenn Franz Müntefering dennoch anders redet, als ihm die Tradition seiner Partei nahelegt, hat dies gute Gründe. Der Schaden für die Wirtschaft in kurzer Frist könnte hinzunehmen sein, wenn die Finanznot des Staates in sehr kurzer Frist behoben werden müßte.

Was richtig ist, kann aber per se nicht abstrakt entschieden werden. Es ist immer die Nähe oder Ferne von Wahlterminen mit in Betracht zu ziehen. In jedem Fall liegt es im Interesse der individuellen Lebenszufriedenheit und der Stabilität unserer Grundordnung, wenn man die Menschen auf die Notwendigkeit einer Mentalitätsänderung vorbereitet. Die Konsumchancen werden für eine Minderheit zwar weiter wachsen, für die Masse aber erodieren. Da in einer Demokratie zumindest atmosphärisch die Mehrheiten zählen, steht eine Renaissance der Konsumkritik auf der Tagesordnung. Dabei wird man endlich auf die alte, beschwerliche Strategie, das schlechte Gewissen der Wohlstandsbürger zu wecken, verzichten können. Es mag also nicht viel sein, was Gerhard Schröder auf dem Boden, den ihm Helmut Kohl bereitet hat, ernten oder säen könnte. Immerhin wird sich aber mit seinem Namen das Ende der Spaßgesellschaft verbinden.


 
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