© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/02 29. November 2002

 
Ein Kreis des Jammers
Auf den Kanzler kommt es an: Die "Generation Schröder" steht am Scheideweg
Doris Neujahr

So wenig Medienkanzler hat es seit 1998 nicht mehr gegeben. Umstandslos stempeln die Kommentatoren in Presse, Rundfunk und Fernsehen ihren einstigen Liebling Gerhard Schröder zum Versager. In die Hohn- und Spottgesänge stimmen auch diejenigen ein, die ihm politisch nahestehen. Aus Furcht, von ihm mit in den Abgrund gerissen zu werden, versetzen sie dem - vielleicht - Fallenden einen Tritt.

Verblüffend ist die Unsicherheit, mit der Gerhard Schröder darauf reagiert. Er, der sonst keine Kamera ausgelassen, jeden Lacher auf seine Seite gebracht und sich noch im Sommer auf Sachsens gebrochenen Deichen als Mann für ernste Zeiten präsentiert hatte, scheute sogar den Bundespresseball, die glamouröse Pflichtveranstaltung für alle, die gesellschaftlich etwas bedeuten wollen. Und bei der Bundespressekonferenz zuvor hat der Geltungsbedürftige sich hinter dem Rücken seines Finanzministers versteckt. Nein, keine Schadenfreude darüber, daß er wirkt wie ein müder Vorruheständler, aber die Citoyens unter den Wählern dürfen aufatmen, weil die virtuelle Medienwelt, in der der Kanzler sich bewegte, unter dem Ansturm der Faktizität in sich zusammengefallen ist. Endlich!

Schröder feierte Erfolge, wenn er den hemdsärmligen Pragmatiker in der improvisierten Notgemeinschaft geben konnte. Hier das Problem (der zahlungsunfähige Konzern), da die schnelle Lösung (der staatliche verbürgte Großkredit). Noch bei der Jahrhundertflut in Sachsen waren die Notwendigkeiten eindeutig: Zuerst mußten Sandsäcke gestapelt, Menschen evakuiert und notversorgt werden. Danach kam der Wiederaufbau. Schröder moderierte, was auf der Hand lag: Daß alles viel Geld kostet, Solidarität nötig und Steuersenkungen unmöglich sind. Zum Schluß noch ein zorniger Blick, der die Brüsseler Pfennigfuchser präventiv in die Strafecke verbannte, und die Nation war begeistert!

Jetzt hängen die Arme schlaff herab, das Gesicht fällt ratlos auseinander. Auf der Ebene des öffentlichen Staatsschauspiels wird offenbar, was faktisch längst auf der Hand lag: Der Schröder-Stil ist einer Strukturkrise nicht gewachsen. Die Halbwertzeit großer Gesten dauert nur noch bis zur nächsten Reporterfrage, weil jedes Problem, das man gelöst zu haben glaubt, zehn neue aufwirft. Jede Nachfrage ein spitzer Pfeil, der den aufgeblasenen Frosch zum Platzen bringt. Also macht er sich klein und taucht ab.

Zur Panik besteht aber gar kein Anlaß. Die Probleme sind schwierig, doch angesichts der Potenzen, über die Deutschland verfügt, allemal lösbar. In Schröders Schwächephase spiegeln sich vielmehr seine eigenen Defizite und die seiner politischen Generation wider. Bei einem Politiker, der bis dato einen derart veräußerlichten Politikstil gepflegt hat, verweist der plötzliche Mangel an adäquater Rede und Gestik auf Überforderung und Ratlosigkeit.

Schon wird von einer "Deutschen Krankheit" gesprochen, vergleichbar der "Englischen" in den siebziger Jahren. Auf deren Höhpunkt kam in Großbritannien Margaret Thatcher an die Macht, die sich beim Krisenmanagement den Ruf der "Eisernen Lady" erwarb. Beim Lesen ihrer dickleibigen Memoiren fällt - neben ihrer Selbstverliebtheit - ihre Verstandesschärfe und die Fülle ihrer historischen Kenntnisse und gesellschaftspolitischen Ideen auf. In Wirtschafts- und Finanzfragen war sie sogar hochgebildet, was ihr einen umfassenden, strategischen Politikansatz erlaubte, wie angreifbar dieser im Einzelnen auch sein mochte. Thatcher stammt aus bescheidenen Verhältnissen, hatte sich aber Sprache und Umgangsformen von "Oxbridge" perfekt angeeignet. Als Mischung aus tradierter überpersönlicher Verpflichtung und eigenwilliger Persönlichkeit wurde die "Eiserne Lady" auch ein wetterfestes Medienbild.

Damit ist ein - neben den Theoriedefiziten - weiteres, entscheidendes Manko des Kanzlers bezeichnet, das ihn hindert, nun als Staatsmann in Erscheinung zu treten. Ein vergleichbarer Rückgriff auf Formen staatlicher Dignität ist ihm aus mehreren Gründen verwehrt. Er ist der führende Vertreter einer rein bundesrepublikanischen, in ihren Anfängen mehr oder weniger links-alternativen Politikergeneration, der ersten ihrer Art. Am Anfang stand die Rebellion gegen alles Formelle, das als Zwang und Entfremdung lächerlich gemacht wurde. Diese Rebellion wurde zum Selbstzweck. Gewiß sind fettige Haare, zottelige Bärte und ausgebeulte Pullover heute selbst bei den Grünen aus der Mode gekommen, doch der Staatsfrack ist für sie noch immer eine Verkleidung, die auf dem Weg zur "Selbstverwirklichung" halt gebraucht wird. Es fehlt das Bewußtsein, daß das staatliche und soziale Rollenspiel auch etwas mit Disziplinierung, Festigkeit, Stetigkeit, mit Zurücknahme des Selbst und mit Unterordnung zu tun hat - mit Eigenschaften, ohne die erfolgreiche Innen- und Außenpolitik überhaupt nicht möglich sind.

So wurde die rot-grüne Kritik an der - wahrhaft kritikwürdigen - amerikanischen Irak-Politik im Stil von Kneipenbrüdern vorgetragen. "Unter Freunden", so die wurstige Erklärung, müsse "ein offenes Wort" möglich sein. Doch Beziehungen zwischen Staaten, zumal zu einer Weltmacht, sind keine informelle, private Beziehungskiste, in der man straflos seinen Launen nachgibt. Plötzlich sieht das deutsche Publikum den medialen Weltstaatsmann Schröder zum stillosen Hanswurst und unsoliden Marktschreier geschrumpft, der zur Strafe demütig auf den Händedruck von George W. Bush wartet. Es guckt neidisch nach Frankreich, dessen Regierung ihre Vorbehalte formvollendet und unvergleichlich wirksamer vorgetragen hat. Natürlich hat Schröder aus Wahlkalkül so gehandelt. Doch wenn eine realistische Antwort auf die Frage gesucht wird, wozu er den Wahlsieg eigentlich brauchte, schließt sich nur ein Kreis des Jammers: Damit er nach dem 22. September weiterhin sagen konnte: Ich, der Kanzler! Das aber ist zu wenig.

Die "Generation Schröder" hat den Staat erst als Feind, dann als einen Apparat betrachtet, den man benutzt, um die "Gesellschaft" nach dem eigenen Bild zu formen. Wie das geht, zeigte sie bei der Vergewaltigung des Bundesrates bei der Verabschiedung des Einwanderungsgesetzes. Bis heute hat sie nicht verinnerlicht, daß der Staat eine Instanz darstellt, durch die Völker und Nationen sich ihre aktuelle Form geben. Aus diesem Bezugsfeld schöpft er seinen Anspruch auf Respekt, darin liegt aber auch eine Kraftquelle für positive Anstrengungen, die man mobilisieren muß, um politische Führung auszuüben. Dazu müßte man darstellen, daß Staat, Nation und Volk mehr sind als die Summe der versammelten Lobbyinteressen, die in der ökonomistisch definierten "Deutschland AG" immer weniger austariert werden können.

Jetzt, da das ökonomische Erbe fast aufgebraucht ist, enthüllt sich, daß die vorgeblichen Reformer und nationalen Negationisten der Schröder-Generation weder über tragfähige Konzepte noch über einen eigenen Stil staatlicher Repräsentation verfügen. Das sind die zwei Seiten derselben Medaille. Über ihre Verunsicherung in der Krisenzeit hilft ihnen kein PR-Berater hinweg.

Gerhard Schröder hat drei Möglichkeiten. An die schlimmste, das Aussitzen, mag man nicht denken. Von den zwei anderen zuerst die beste: Er wächst über sich hinaus, bündelt Intelligenz, Fleiß, Machtwillen, Mut und Medientalent und wird zu dem Staatsmann, den er bisher nur gespielt hat. Dann wird seine Silhouette mit der des Kanzleramts verschmelzen und er zum "großen" Kanzler werden. Dritte Möglichkeit: Er wird als Schmierenkomödiant unter Johlen und Pfeifen von der Bühne gezwungen. Und mit ihm seine politische Generation.


 
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