© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/02 29. November 2002

 
Die türkische Eintrittskarte
EU-Osterweiterung: Mit der Aufnahme des geteilten Zypern würde auch der Türkei der Weg in die Europäische Union mittelfristig geebnet
Charles Brant

Die antike Insel der Aphrodite steht wieder auf der europäischen Tagesordnung. Als Zankapfel zwischen Athen und Ankara ist Zypern zugleich eine Meßlatte für eine türkische Europapolitik - und droht nun zum Maßstab europäischer Machtlosigkeit zu werden.

Zypern liegt am äußersten nordöstlichen Rand des Mittelmeerbeckens, über 2.300 Kilometer von München und Moskau, aber nur 300 Kilometer von Tel Aviv und Damaskus entfernt. Dieses vergessene Stückchen Asien mit europäischer Geschichte stellt einen geostrategischen Knackpunkt dar, wie die Ereignisse der letzten Zeit gezeigt haben: das Eintreffen palästinensischer Kämpfer aus Bethlehem, die Verhandlungen zwischen Vertretern der zypriotischen Volksgruppen, der Besuch des UN-Generalsekretärs Kofi Annan.

Jahr für Jahr kommen 400.000 Deutsche, über eine Million Briten sowie unzählige Skandinavier, Niederländer und Franzosen nach Zypern, um die Sonne, das Meer und den Wein zu genießen. Den europäischen Touristen ist die Insel durchaus ein Begriff, ihre Regierungen dagegen tun so, als gäbe es sie nicht. Zyperns für den Mai 2004 angepeilter EU-Beitritt droht historische Narben aufzureißen. Das Kopfzerbrechen, das er den Europäern bereitet, haben sie nicht zuletzt ihrer eigenen langen Gleichgültigkeit zu verdanken.

Der arme Süden hat Nordzypern überflügelt

Im Laufe ihrer bewegten und oft blutigen Geschichte hat die Insel der hundert Basiliken - ein Überbleibsel der europäischen Christianisierung - zum Römischen, dann zum Byzantinischen Reich gehört, das Interesse Friedrichs II. erregt und von 1192 bis 1489 der Herrschaft der französischen Dynastie Lusignan unterstanden. Dann fiel sie an Venedig. Von 1573 bis 1878 herrschten die Osmanen über Zypern. Statt der erträumten Rückkehr zu Griechenland wurde die Insel danach britische Kolonie. Englisch als Amtssprache ersetzte das Französische, das die Eliten seit Jahrhunderten verwendet hatten.

Die britische Kolonialmacht verwaltete die Insel nach dem bewährten Prinzip Divide et impera: "Teile und herrsche". Hier wie anderswo in ihrem Empire säte sie Zwietracht zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsschichten. In diesem Fall wurden die türkischen und griechischen Zyprioten gegeneinander ausgespielt. Noch 1954 verkündete der Unterstaatssekretär für koloniale Angelegenheiten, Henry Hopkinson, Zypern werde "niemals eine vollständige Unabhängigkeit anstreben können". Ein Jahr später bombardierten zypriotische Patrioten Nikosia. Die Briten reagierten mit brutalen Repressionen und der Deportation des Erzbischofs Makarios. Sie dachten eine Teilung der Insel, dann die gemeinsame Verwaltung durch Großbritannien, Griechenland und die Türkei an. Die Konflikte zwischen den Volksgruppen verschärften sich. Am 16. August 1960 wurde schließlich die Unabhängigkeit Zyperns erklärt. Als Relikt der Kolonialzeit bestehen noch die zwei Militärbasen Akrotiri und Dhekelia, die als "britisches Kronland" Großbritannien bei der Entlassung Zyperns in die Unabhängigkeit belassen wurden und etwa drei Prozent der Insel einnehmen.

Der Kalte Krieg erschwerte die Lage des jungen Staates. Auf keinen Fall sollte Zypern ein Kuba des Mittelmeers werden. Um dies zu vermeiden, drängten die Amerikaner auf einen Anschluß Zyperns an Griechenland. Makarios, der wie viele griechische Zyprioten diese Aussicht zunächst begrüßt hatte, änderte seine Politik auf sozialistischen Kurs. Damit zog er die Feindschaft der griechischen Militärjunta auf sich. Am 15. Juli 1974 erfolgte ein von der Athener Junta unter Geheimdienstchef Dimitri Ioannides gesteuerter Putschversuch griechischer Nationalisten, bei der der Präsidentenpalast bombardiert und Makarios' Tod fälschlicherweise im Radio proklamiert wurde. Während London und Washington sich dezent zurückhielten, schritt die Türkei zur Tat. Am 20. Juli 1974 marschierte sie mit 7.000 Soldaten in Zypern ein. Drei Tage später gab die Athener Junta sich geschlagen.

So fiel Zypern einer türkischen Invasion zum Opfer, die de facto die Teilung der Insel bedeutete. Die Republik Zypern verlor etwa ein Drittel ihres Territoriums und hatte 200.000 Flüchtlinge zu versorgen. Die Türkei besetzte den Norden der Insel, bislang die wohlhabendste Region mit den meisten touristischen Attraktionen. Sie gab sich nicht damit zufrieden, dort Truppen zu stationieren (derzeit 40.000 Mann), sondern verpflanzte um die 100.000 Menschen, die ursprünglich aus Anatolien stammten, in ihre besetzte Zone. Die Regierung in Ankara ist die einzige, die den 1975 gegründeten Türkischen Föderationsstaat (seit 1985 Türkische Republik Nordzypern) anerkennt.

Nach langem Zögern verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 1. November 1974 die Resolution 3212. Diese Resolution "fordert den sofortigen Rückzug sämtlicher ausländischen Streitkräfte aus der Republik Zypern (...) und die Beendigung jeglicher ausländischen Einmischung in die Angelegenheiten der Republik Zypern". Im Folgejahr verdammte die Resolution 3395 "die künstliche Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung", die die türkische Armee auf ihrem Besatzungsgebiet praktizierte. Ankara nahm davon keinerlei Notiz. Das türkische Regime wußte, daß es als treuer Vasall der USA unverwundbar war.

Vieles in Nikosia erinnert an Berlin vor 1989

Bis heute bleibt die Insel geteilt. Eine Mauer trennt die Hauptstadt Nikosia in zwei Hälften (Nicosia auf türkisch, Leukosia auf griechisch). Auf beiden Seiten der Demarkationslinie stehen Verbotsschilder, die das Fotografieren untersagen. Auf der türkischen Seite prangt die Flagge Nordzyperns, die wie das Negativ der türkischen Flagge aussieht - roter Halbmond auf weißem Grund. Auf der Südseite werden unter den Porträts von Türken getöteter Zyprioten Kränze niedergelegt. Sandsäcke, Stacheldraht, bewaffnete Männer in den Wachtürmen: Vieles erinnert an das geteilte Berlin.

Heutzutage vegetiert der von den Türken kontrollierte Norden vor sich hin. "Hier wird nichts produziert, nichts investiert, wir sind ein Rentnerparadies", sagt Mehmet Ali Talat, Oppositionsführer der nordzypriotischen "Regierung" und Vorsitzende der Republikanischen Türkischen Partei (CTP). Dennoch ist der Norden ein staatlich subventioniertes Projekt der Türkei, dessen Staatsbedienstete doppelte Gehälter empfangen und wo die Wohnprojekte als prestigeträchtige Manifeste auf Kosten türkischer Steuerzahler errichtet wurden, während der in der Souveränität verbliebene Südteil der Insel einen sehr hohen Lebensstandard genießt. Das Bruttoinlandprodukt der Republik Zypern ist höher als in Griechenland, fast so hoch wie in Spanien. Mit 95 Prozent ist die Alphabetisierungsrate auf demselben Stand wie in Belgien und höher als in Spanien (91,7 Prozent). Kein Wunder, daß sogar die türkischen Zyprioten ihre eigene Armut leid sind und der Europäischen Union beitreten wollen!

Für Zypern würde der Beitritt bedeuten, nicht länger eine Geisel im Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei zu sein, so wie es zuvor die Geisel des britischen Imperialismus und dann des Kalten Krieges war. So sehen es jedenfalls die griechischen Zyprioten, und sie sind zu gewaltigen Anstrengungen bereit, um diesem Ziel näherzukommen. Längst haben sie ihren alten Traum der Enosis - der Rückkehr in den Schoß Griechenlands - begraben, ohne jedoch ihre kulturelle Nabelschnur ganz zu durchtrennen. Unter der Schirmherrschaft der Uno haben sie die Volksgruppengespräche wiederaufgenommen und sich entschlossen gezeigt, zu einem Kompromiß zu finden. Mittlerweile sind sie sogar bereit, ihre Opposition gegen einen türkischen EU-Beitritt aufzugeben. Von Brüsseler Seite geht man bei einem Beitritt Zyperns von Gesamtzypern aus, egal ob Föderation, Konföderation oder bizonaler Bundesstaat. Falls eine Einigung ausbleiben sollte, würde nur der "griechische Teil", also die Republik Zypern aufgenommen.

Auch Griechenland sucht allen historischen und aktuellen Streitigkeiten zum Trotz eine friedliche Einigung mit der Türkei. Im vergangenen Frühjahr warb der griechische Außenminister Georgios Papandreou für eine Demilitarisierung der Insel. Das Schicksal der britischen Präsenz wäre davon auch betroffen. Im Gegenzug müsse Athen seine Militärpräsenz in der Ägäis abbauen, lautete die Antwort aus Ankara. Dabei wäre eine gesamtzypriotische Lösung ganz im Sinne der Türkei: Die 200.000 türkischen Zyprioten könnten die Avantgarde für das ganze türkische Volk spielen, am Euro teilhaben, die türkische Sprache in der EU verankern und damit am Ende vielleicht dazu beitragen, den Weg der Türkei in die EU zu ebnen.

Erdogan will "belgisches Modell" für Zypern

In der Türkei scheint die neue Regierung unter Recep Tayyip Erdogan dieses erkannt zu haben und von der türkischen "Hallstein"-Politik abzuweichen. "Wir sind für das belgische Modell. Ein Staat, zwei gleichberechtigte Volksgruppen", ist die sehr offene Haltung Erdogans in der Zypernfrage. Nun müßte von dieser Haltung nur noch der "Statthalter", der Präsident der "Türkischen Republik Nordzypern", Rauf Denktas, überzeugt werden. Die starre Haltung Denktas, der enge Beziehungen zum türkischen Militär haben soll, ist in einer Angst begründet, im Falle einer "Wiedervereinigung" gegenüber der wirtschaftlich starken Republik Zypern mit der separatistischen Republik zu "einer Art Kanton" zu verkommen. Doch diese bricht bereits seit Dezember des letzten Jahres auf. Seitdem führen die griechischen und türkischen Zyprioten wieder Verhandlungen im Hinblick auf eine Aufnahme in die EU. Wie in einem Duell stehen sich dabei die Repräsentanten der Inselteile gegenüber: Dem 77jährigen Denktas steht der 82jährige Präsident der Republik Zypern, Glafkos Klerides, gegenüber. Die Verhandlungen fuhren sich schnell fest. Noch im letzten September hatte Denktas bei einem Treffen mit Uno-Generalsekretär Kofi Annan in Salzburg der alten Vorstellung eines "gemeinsamen Staates aus zwei Einheiten" zugestimmt. Mittlerweile hat er diese Zustimmung wieder rückgängig und fordert Garantien einer Koexistenz von "zwei Souveränitäten" auf der Insel. Anläßlich des Zypern-Besuches von Annan bedauerten viele zypriotische Türken seine unversöhnliche Haltung, die eher eine Hörigkeit gegenüber Ankaras Militärs als den Willen ihrer Volksgruppe ausdrücke. Oppositionsführer Talat erklärt: "Auf Zypern gibt es auch andere Stimmen als Denktas. Viele türkische Zyprioten wollen den EU-Beitritt."

In der Europäischen Union zeichnet sich eine Krise ab. Das Nato-Mitglied Türkei ist sich der fortdauernden US-amerikanischen Unterstützung sicher, um andere Mitgliedstaaten zu bewegen, nicht nur für einen EU-Beitritt Zyperns, sondern auch der Türkei zu stimmen. Griechenland könnte seinerseits auf eine Ablehnung der Aufnahme Zyperns mit Auflagen an die türkische Minderheit reagieren, indem es der Osterweiterung die Zustimmung verweigert. Für die Erweiterung ist ein einstimmiger Beschluß aller Mitgliedstaaten erforderlich. Näheres wird sich bei dem für Dezember vorgesehenen Gipfeltreffen in Kopenhagen herausstellen. Das sollte man zumindest hoffen. Denn in der ersten Hälfte des nächsten Jahres gibt Dänemark den EU-Vorsitz an Griechenland weiter.

Foto: Der zypriotische Präsident Klerides (l.) und der Vertreter Nordzyperns Denktas im Januar 2002 in Nikosia: Stellvertreter einer Annäherung zwischen Griechenland und der Türkei


 
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