© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/02 29. November 2002

 
Deutsche von US-Firmen abgehängt
Pharmaindustrie: Das Geschäft mit der Gesundheit wird zunehmend von global agierenden Konzernen bestimmt
Rüdiger Ruhnau

Die chemisch-pharmazeutische Industrie entwickelte sich Anfang des 19. Jahrhunderts aus kleinen Werkstätten, in denen man einfache Chemikalien und Naturprodukte für Apotheken herstellte (Merck, Schering, Riedel). Eine Wende bahnte sich an, als die Farbenindustrie eigene pharmazeutische Abteilungen bildete und mit den synthetisch gewonnenen Medikamenten eine neue Phase der Heilmitteltherapie begann. Mit der auf wissenschaftlicher Forschung basierenden Massenproduktion abgepackter Arzneien setzte dann eine Entwicklung der Pharmaindustrie ein, die die traditionelle Aufgabe der Apotheken völlig veränderte.

In der Folge überfluteten die Pharmafirmen den Markt mit einer Unmenge oft gleichartiger Produkte, die alle bezweckten, am "Geschäft mit der Gesundheit" teilzunehmen. Eine dynamische Eigengesetzlichkeit veranlaßt die hochentwickelten Pharmabetriebe immer neue Präparate herauszubringen, obwohl schon die Schwelle erreicht ist, wo das Risiko der gefährlichen Nebenwirkungen von Arzneimitteln größer sein kann, als der zu erwartende Heilerfolg. Nach Umfragen nehmen 28 Prozent der Bevölkerung mindestens ein Medikament täglich ein: zumeist gegen Bluthochdruck, Herzbeschwerden oder Diabetes. Den zu 80 Prozent gesetzlichversicherten Deutschen stehen über 50.0000 Arzneimittel zur Auswahl. Die Stiftung Warentest stellte fest, daß von den 5.000 gängigsten Arzneien jede vierte ungeeignet ist. Thomapyrin, das mit jährlich 18 Millionen Packungen meistverkaufte Arzneimittel in Deutschland, bestand den Test nur in der schlechtesten der vier Bewertungsgruppen. Bei der Vielzahl von Fremd- und Giftstoffen, denen der Gegenwartsmensch täglich ausgesetzt ist, sind die Wechselwirkungen mit den Arzneimitteln und dieser wiederum untereinander noch nicht genügend erforscht.

Die Stimmung im Gesundheitswesen und an den Börsen ist miserabel. Zwei Jahre Aktienbaisse und eine Rekordzahl von Insolvenzen halten die Märkte derzeit im Pessimismus gefangen. In der Vergangenheit waren Pharmapapiere vor allem bei wirtschaftlicher und politischer Unsicherheit gefragt, sie galten als konservativste Anlagen an der Börse. Gründe für die drastische Neubewertung der Aktien hängen aber auch mit dem auslaufenden Patentschutz umsatzstarker Medikamente zusammen.

Im Zuge einer Fusionswelle ändert sich die Rangliste der führenden Pharmakonzerne in immer kürzeren Abständen. Deutsche Firmen sind unter den zehn größten der Branche nicht mehr vertreten, sieht man von dem an fünfter Stelle stehenden deutsch-französischen "Life-Science"-Konzern Aventis ab, der aus der Hoechst AG hervorging.

Stand der New Yorker Pharmakonzern Pfizer nach Übernahme des US-Konkurrenten Warner-Lambert kürzlich noch an zweiter Stelle, so gelang es jetzt den fixen Amerikanern dank ihres Umsatzrenners Lipitor (Cholesterinsenker), den Spitzenplatz einzunehmen. Pfizer Inc., von einem ausgewanderten Württemberger einstmals in den USA gegründet, vermarktet heute acht der 30 umsatzstärksten Medikamente der Welt und gehört zu den profitabelsten der Branche. Mit dem rezeptpflichtigen Potenzmittel Viagra gelang Pfizer 1997 ein ganz besonderer Wurf. Und durch das beschleunigte zentrale EU-Zulassungsverfahren, das auch bei gentechnisch hergestellten Medikamenten angewandt wird, brauchte Pfizer nicht mehr in allen EU-Mitgliedstaaten die komplizierten und teuren Zulassungsverfahren beantragen.

Auch in England zwingen die aufwendigen Forschungskosten, bei gleichzeitig ständig kürzer werdender "profitabler Lebensdauer" der Pharmapräparate, den zersplitterten Markt zu Fusionen. Die Smithkline Beecham Holding Co. (London) fusionierte mit dem britischen Pillendreher Glaxo Wellcome zum global zweitgrößten Pharmariesen Glaxo Smithkline. Der Rangzweite ist besonders erfolgreich mit seinem Aidsmedikament AZT und mit Tagamet, einem Mittel gegen Magengeschwüre. Glaxo Smithkline steckt mit 2,4 Milliarden Pfund jährlich so viel Geld wie kein anderes Pharma-Unternehmen in die Forschung. Diese Konzentrationsprozesse haben auch die deutschen Marktteilnehmer in Zugzwang gebracht. Am raschesten hat die Hoechst AG reagiert, die rechtzeitig den Umbau zu Aventis vollzog, während die Leverkusener Bayer AG erklärte, die ausländischen Zusammenschlüsse würden sie nicht in Panik versetzen.

Den dritten Platz in der internationalen Rangliste nimmt mit einem Jahresumsatz von 21,4 Milliarden Dollar die US-Firma Merck & Co. ein, nicht zu verwechseln mit dem Darmstädter Chemie- und Pharmakonzern Merck KGaA, Darmstadt. Über die Führung des Namens "Merck", der seit dem Ersten Weltkrieg auch von der in US-Besitz gelangten ehemaligen Tochterfirma Merck &. Co. beansprucht wurde, gab es langwierigen Streit. Die beiden Unternehmen verständigten sich schließlich darauf, daß der Name "Merck" in den USA und Kanada exklusiv von Merck & Co. und in Europa und dem Rest der Welt von der Merck KGaA verwendet werden darf.

Der in New York ansässige fünftgrößte Medikamentenproduzent der Welt, Bristol-Myers Squibb (BMY), steht derzeit wegen Ermittlungen der US-Börsenaufsicht SEC und der Staatsanwaltschaft New Jersey im Kreuzfeuer. BMY macht für seine Probleme die immer schwerfälligere Zulassungspraxis der US-Gesundheitsbehörde FDA (Food and Drug Administration) verantwortlich. Wenn die Genehmigung neuer Wirkstoffe durchschnittlich 19 Monate beträgt, kommt dies die Unternehmen teuer zu stehen. Um ein neues Arzneimittel auf den Markt zu bringen, wird mit Kosten von etwa 380 Millionen Dollar gerechnet.

Aber die FDA muß über die Reinheit von Arznei- und Lebensmitteln wachen. Dauerhaften Ruhm erwarb sich die FDA seinerzeit mit der Nichtzulassung des Wirkstoffes Thalidomid für die USA. Dieses von der deutschen Firma Grünenthal produzierte barbituratfreie Schlafmittel für Schwangere rief vor 40 Jahren die Contergan-Katastrophe mit über 7.000 Geschädigten hervor.

Doch die staatlichen Rahmenbedingungen müssen so beschaffen sein, daß technischer Fortschritt und Innovationen nicht verzögert werden. Hemmend wirkten beispielsweise auch die Verzögerungen bei der Genehmigung von gentechnologischen Anlagen oder die "Kostendämpfungsmaßnahmen" bei Pharmaprodukten. Die Baisse an den Aktienmärkten hat zudem auch manche der über 540 Biotechnologieunternehmen in Deutschland in die Krise gebracht - keine guten Aussichten.

 

Prof. Dr. Rüdiger Ruhnau arbeitet bei der Forschungsstelle Umwelt und Chemie-Industrie FUCI.


 
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