© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/02 29. November 2002

 
BLICK NACH OSTEN
Gespenster der Vergangenheit
Carl Gustaf Ströhm

Ein Freund kehrte dieser Tage aus Olmütz zurück und berichtete begeistert, wie wunderbar die alte Metropole Mährens mit ihren Barockkirchen sei, wie gut sich einander Tschechen und Österreicher bei den Begegnungen verstanden hätten.

Kurz nachdem ich diesen euphorischen Bericht vernommen hatte, flatterte eine Meldung aus Prag auf den Tisch. Demnach hätten sich fast alle führenden tschechischen Politiker der Forderung des EU-Parlaments widersetzt, in der Frage der Vertreibung der Sudetendeutschen eine "versöhnliche Geste" zu setzen. So habe Parlamentspräsident Lubomír Zaorálek gesagt, die Tschechische Republik habe, was die Benes-Dekrete betreffe, keinen Grund für "einseitige" Gesten. "Wenn sich jemand mit den Nachkriegsereignissen befassen will, muß er sich auch mit dem Krieg selber befassen - sowie auch damit, warum es zu diesem Krieg gekommen ist", erklärte der 46jährige Sozialdemokrat.

Da war also wieder der noch aus realsozialistischen Zeiten bekannte Standpunkt, wonach die Sudetendeutschen als Hitler-Kollaborateure selber Schuld an ihrem Schicksal seien. Jan Zah-radil, Vizechef der oppositionellen rechtsliberalen ODS, zeigte sich mit der Resolution des Europaparlaments zufrieden - mit Ausnahme der Forderung, man solle das "Straffreistellungsgesetz" nachträglich für ungültig erklären.

Damit hatte die Tschechoslowakei alle 1938 bis 1946 an Deutschen begangenen Verbrechen für straffrei erklärt. Dagegen zeigte sich Zahradil "sehr zufrieden", daß die These von der Unvereinbarkeit der Benes-Dekrete mit dem EU-Rechtsverständnis eine Niederlage erlitten habe. Mit anderen Worten: die Hoffnung der Sudetendeutschen, Brüssel werde der Tschechei die EU-Aufnahme verweigern, solange die Benes-Dekrete nicht annulliert seien, wird sich nicht erfüllen. Während Deutschland bereits 1997 eine windelweiche deutsch-tschechische Erklärung unterzeichnete, leistete das kleine Österreich noch Widerstand und verlangte von Prag eine Distanzierung von der Benes-Hinterlassenschaft.

Doch inzwischen erklärte auch Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, es dürfe kein Veto gegen eine Aufnahme Prags geben. Die FPÖ, die sich weiter für ein solches Veto stark machte, hat nach ihrer Wahlniederlage gewiß nicht die Kraft, solche Forderungen durchzusetzen. Am Falle der Benes-Dekrete zeigt sich, daß alle juristischen Argumente an einer unsichtbaren "Mauer" zerschellen - nämlich an der Tatsache, daß die Deutschen den Zweiten Weltkrieg verloren haben und daß die Vertriebenen jenen Teil des deutschen Volkes darstellen, der dafür am schwersten zu tragen hat. Die Sudetendeutschen in der Bundesrepublik haben das bereits zu spüren bekommen. Von Rot-Grün war nichts zu erwarten, aber auch die Unterstützung durch die Unionsparteien fällt schwach aus. Der bayerische Ministerpräsident Stoiber, selbst mit einer Sudetendeutschen verheiratet, findet zwar markige Worte auf Heimattreffen, ist aber in der politischen Praxis zahm.

Das deutsch-tschechische Verhältnis ist komplizierter als selbst die Beziehung zu Polen oder Russen. Der geballte Haß, wie er sich in Böhmen und Mähren 1945/46 an den dort lebenden Deutschen entlud, deutet darauf hin, daß sich da in der tschechischen Volksseele etwas zusammengebraut hatte. Wie es dazu kam - darüber werden sich noch künftige Historiker und Psychologen streiten. Das Erbe des Edvard Benes lastet auch weiter über böhmischen Landen - und niemand hat die Kraft, dieses Gespenst zu bannen.


 
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