© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/02 29. November 2002


Peter Handke
Narziß auf Abwegen
von Thorsten Hinz

Als das Kind Kind war, wußte es nicht, daß es Kind war", heißt es zu Beginn des Wim-Wenders-Films "Der Himmel über Berlin", für den Peter Handke, der am 6. Dezember seinen 60. Geburtstag feiert, den Text verfaßt hat. Der Film erzählt die Geschichte der Engel Damiel und Cassiel, die auf die Erde herabsteigen und nur für Kinder und einen alten Weisen sichtbar sind. Diese Konstellation enthält ein Grundthema von Handkes Literatur: Der Verlust authentischer Erfahrung, tieferen Wissens und des Selbst durch die Anverwandlung an die entfremdete Welt, und die Frage, wie der Verlust zu überwinden wäre.

In diesem Sinne lautet auch ein Schlüsselsatz des "Bildverlust", seines jüngsten Romans: "Das Geld verkörpert das Diesseits und heißt: Jetzt!" Handke versucht, über dieses "Jetzt" literarisch Klarheit zu gewinnen, indem er gesellschaftlich zu ihm auf Distanz geht.

Die Irritationen darüber schlagen sich in Bezeichnungen wie "Narziß auf Abwegen" (Manfred Durzak) nieder. Da macht sich der autoritäte Anspruch der aufgeklärten Gesellschaft bemerkbar, aber auch heimliche Bewunderung. Die "Narziß"-Anspielung enthält allerdings mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Handke hält routiniert die Mitte zwischen Sezession und Kalkül.

Seinen Eintritt in die deutsche Literaturszene inszenierte der 1942 in Kärnten geborene Schriftsteller mit 24 Jahren auf der Tagung der Gruppe 47 in Princeton. Sein damals einziges Buch, "Die Hornissen", kannten nur die wenigsten, als er den versammelten Kollegen in einer erregten Suada "Beschreibungsimpotenz" vorwarf. Es war kaum Zufall, daß er neben einem Spiegel-Redakteur saß. Kurz darauf war er der neue deutsche Literaturstar. Sein Ruf als Provokateur verfestigte sich mit dem Theaterstück "Publikumsbeschimpfung". Während des Jugoslawien-Krieges gab er den 1973 verliehenen Büchner-Preis aus Protest gegen die Berichterstattung in Deutschland, die, wie er meinte, Betroffenheit an die Stelle von Objektivität setzte, mit großem Aplomb zurück.

Zu blinder Heldenverehrung laden seine Polemiken nicht ein. Seine Sprachkritik versagte, als er in einem spektakulären Beitrag für die Zeit die längst eingegangene Boulevardzeitung Super verteidigte, in der Boulevardjournalisten (West) unter dem Vorwand, Sprachrohr der "Ossis" zu sein, diesen eine gossenartige Sprache und Denkweise unterstellten. Handke wollte dem Freund und Verleger Hubert Burda einfach einen Gefallen tun.

Man sieht, daß auch Handkes Sezession die aktuelle Sinnfrage, wie weit ein richtiges Leben in der falschen Welt möglich sei, nicht auflösen kann. Vielleicht ist die Frage nur falsch gestellt? Im "Himmel über Berlin" wird Damiel am Ende aus Liebe zu einer Zirkusartistin ein Mensch und nimmt es auf sich, zu irren, zu scheitern, zu sterben. Aus seinen Worten - Handkes Schlußwort im Film - spricht höchstes Glück: "Ich weiß jetzt, was kein Engel weiß."


 
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