© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/02 29. November 2002


Deutsches Bürgertum
Mangel an Corpsgeist und Rückgrat
Dieter Stein

Wenn die Debatte um die deutsche Krise so weitergeht, kann sich die rot-grüne Regierung in einer wochenlangen Abnutzungsschlacht gegen die bürgerliche Opposition durchsetzen. Vom letzte Woche ausgerufenen Sturm auf die Barrikaden wird nicht viel übrigbleiben - solange die Feigheit den Bürgern so tief in den Knochen sitzt.

Da erleben wir im Zusammenhang mit dem vor zwei Wochen in der JUNGEN FREIHEIT geführten Interview mit dem brandenburgischen Innenminister und CDU-Politiker Jörg Schönbohm, wie es anders gehen kann. Schönbohm ist das Musterbeispiel eines Quereinsteigers mit Ecken und Kanten. Er ist nicht durch eine jahrzehntelange Parteikarriere verbogen, er hat offensichtlich noch Mark in den Knochen, das vielen Parteipolitikern im opportunistischen Karrierekampf abhanden kommt.

Sowohl der Inhalt seines Interviews als auch der Ort, nämlich die "umstrittene" JF, werden gemeinhin als Provokation empfunden. Schönbohm ist sie eingegangen! Weil er den oktroyierten Konsens der politisch Korrekten satt hat. Als wenige Tage danach zahlreiche Zeitungen den Innenminister heftig attackierten (Tagesspiegel: "Paul Spiegel greift Schönbohm an - Harte Kritik nach Interview mit rechtsradikalem Wochenblatt", Süddeutsche Zeitung: "Rücktrittsforderung gegen Minister Schönbohm"), bleibt der Betroffene demonstrativ gelassen. "Ich wollte mal testen, ob die Reflexe noch da sind. Sie sind noch da. Sie haben reagiert wie die pawlowschen Hunde", erklärte er den verdutzten Presseleuten.

Schönbohms Verhalten ist untypisch für das bürgerliche Deutschland. Thomas Schmid ist leider voll zuzustimmen, wenn er vergangenen Sonntag in der FAZ über die katastrophale Verfassung des bürgerlichen Lagers in Deutschland schrieb: "In schlechten Zeiten aber verfällt es sofort in eine defensive Ratlosigkeit. Dann wird erkennbar, daß es von keiner Idee, keinem Corpsgeist, keinem bürgerlichen Willen getragen ist. Deutschland hat ein Bürgertum ohne Bürgerlichkeit."

Deshalb ist auch der in den letzten Tagen wiederholt erschollene Ruf auf die Barrikaden so lächerlich, solange nicht ein solcher "Corpsgeist" wiederersteht. Und das heißt: Bereits im persönlichen Umfeld, da wo man privat und beruflich steht, Flagge und Rückgrat zu zeigen. Solidarisch zu sein mit Angegriffenen, die eigenen Werte und Traditionen auch zu verteidigen, wenn es ein Risiko bedeutet, womöglich Ächtung in Aussicht steht.

Damit soll die Devise der Stunde keineswegs Defaitismus sein. Sondern geben wir Vorbild, kämpfen wir für Standpunkte auch dann, wenn sie scheinbar eine Minderheitenposition darstellen. Zum Nulltarif ist eine politische und gesellschaftliche Wende nicht zu haben. Im Schlafwagen ist noch niemand zu Einfluß gekommen. Die Barrikade, die zu verteidigen ist, haben wir jeden Tag vor der Nase. Es sind nur zu viele mutlos, sitzen ängstlich in der Deckung und bestätigen sich gegenseitig auch noch in ihrer Hasenfüßigkeit, die sie als "taktisches Verhalten" verbrämen.


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