© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/02 22. November 2002

 
Vieldeutige Ko-Existenz
Russen und Juden: Ernst Nolte über das aktuelle Buch von Alexander Solschenizyn "Zweihundert Jahre zusammen"
Ernst Nolte

Schwerlich hat jemals ein Schrift steller im Bereich von Geistesle ben und Politik einen so tiefgreifenden und praktischen Einfluß ausgeübt wie Alexander Solschenizyn: Noch zu Beginn der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts schien der intellektuelle Vorrang der marxistisch-leninistischen Linken und ihres Revolutionsverständnisses, welches die Geschichte der Sowjetunion und diejenige des Frankreich der Revolution von 1789 bis 1794 in die engste und positivste Verbindung brachte, zumal in Frankreich unerschüttert zu sein, aber nach der Publikation des "Archipel Gulag" im Jahre 1973 ging es mit dieser Vorherrschaft zu Ende, weil niemand mehr in der Lage war, das ungeheure System der sowjetischen Konzentrationslager als eine humanitäre Einrichtung zur Erziehung verirrter Menschen abzugeben. Man durfte darin sogar eins der Vorspiele der Auflösung des kommunistischen Ideologiestaates in den Jahren 1989 - 1991 sehen, und jedenfalls blieb der Name des russischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers mit diesem Ereignis ebenso eng verknüpft wie der des polnischen Papstes Johannes Paul II.

Assimilierung oder Selbstbehauptung

Wer die drei Bände des "Archipel Gulag" mit Erschütterung gelesen hat und den großen Schwung der Leidenschaft auf sich wirken ließ, mit dem Solschenizyn einem verlogenen Schreckensregiment, das sich für den Höhepunkt der Menschheitsgeschichte erklärt hatte, die Maske vom Gesicht riß, wer sich je in die großen Romane wie den "Ersten Kreis der Hölle" oder das "Rote Rad" vertieft und deren Sprachgewalt bewundert hatte, der dürfte von Enttäuschung erfüllt sein, wenn er die Lektüre des ersten Bandes dieser Darstellung des Verhältnisses zwischen Russen und Juden während des 19. und 20. Jahrhunderts hinter sich gebracht hat. Er mag sich sogar fragen, ob er überhaupt Solschenizyn gelesen hat, denn über viele Seiten wird der Fluß seiner Sprache immer wieder durch lange Zitate aus längst vergessenen Werken und schwer zugänglichen Enzyklopädien unterbrochen. Aber Solschenizyn geht offenbar von dem Bewußtsein aus, daß er sich an die Behandlung eines ungemein wichtigen und überaus schwierigen Themas gewagt hat, das verfehlt wird, wenn es aus einem machtvollen Impuls heraus mit Leidenschaft behandelt wird: Das Zusammenleben zweier Völker , die sich im Laufe von 200 Jahren viele und schwere gegenseitige Vorwürfe gemacht haben und die Solschenizyn nun zum "geduldigen gegenseitigen Verstehen" bringen will. Freilich muß er auch von Anfang an heftigen Protest und Widerspruch erwarten, weil er nur von einem "Zusammenleben" und nicht von einer "gemeinsamen Existenz" spricht, denn das Wechselverstehen soll für ihn mit "der beiderseitigen Anerkennung ihres Anteils an der Sünde" verbunden sein. Er geht also davon aus, daß es sich bis heute um das Neben- und Miteinanderleben zweier "Völker" und nicht etwa um die Koexistenz zweier Konfessionen oder Glaubenseinrichtungen innerhalb einer Nation gehandelt hat und daß eine große "Sünde" dieses Miteinanderleben bestimmt hat, offenbar das von Anfang an vorhandene Gegeneinander und dessen Mitursächlichkeit für das Unheil der russischen Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert.

Das Gegeneinander resultierte, so könnte man abkürzend sagen, aus einem Sündenfall der russischen Zaren, die durch die Teilungen Polens auch eine große Anzahl von Juden unter ihre Herrschaft brachten und diesen Teil der Bevölkerung, der eindeutig ein Volk mit eigener Sprache, eigenem Glauben und charakteristischer Kleidung war, in ein freilich riesiges Gefängnis einsperrten, den sogenannten "Ansiedlungsrayon", der von der preußischen Grenze bis dicht vor Smolensk und Charkow reichte. Das nicht immer unzweideutig festgehaltene Ziel bestand darin, die christliche, weithin analphabetische und leibeigene Bauernbevölkerung vor der Ausbeutung durch die meist im Kleinhandel tätigen Angehörigen des "Volkes des Buches" zu schützen und zugleich den Boden für eine Verschmelzung beider Völker zu schaffen, das heißt praktisch für die Russifizierung eines Bevölkerungsteils, der überwiegend die russische Sprache nicht beherrschte und mit großer Zähigkeit sowohl am Gebrauch des "Jiddischen" wie an den traditionellen Glaubenssätzen und Sitten festhielt, deren Ziel und Hauptergebnis darin bestand, das von Gott "auserwählte Volk" von der Umgebung zu isolieren und die altüberlieferte Struktur der "Gemeinde" (kahal) zu bewahren. Damit war von Anfang an eine doppelte Auseinandersetzung programmiert: Diejenige zwischen dem Assimilationsprojekt einer rationalistischen Bürokratie und dem Versuch der Selbstbehauptung des mehrtausendjährigen Judentums sowie mit leichter Zeitverschiebung diejenige zwischen Orthodoxie und den "Aufklärern" (maskilim) innerhalb des Judentums selbst. Solschenizyn verfolgt diese Kämpfe und deren Wandlungen unter Anführung zahlreicher Details und immer mit dem Willen, beiden Seiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Wieder und wieder kann der Leser den Eindruck gewinnen, daß Solschenizyn den Geschicken der Juden mehr Aufmerksamkeit und Anteilnahme widmet als denen der Russen und zumal der herrschenden Elite: Ein großer Teil der städtischen jüdischen Bevölkerung lebte in Armut und Elend, die Methoden der Behörden, sie auf diese oder jene Weise zum Christentum zu bekehren, waren unchristlich. Zar Alexander III. ging immer entschiedener dazu über, die russischen Juden mit rechtlichen und politischen Mitteln zu unterdrücken; die durchaus vorhandenen Möglichkeiten, daß Juden auch in den "innerrussischen" Gouvernements Wohnung nahmen, waren durch die Schikanerie der wechselnden bürokratischen Bestimmungen eine Quälerei für einfache Juden; in der Elite des russischen Judentums gab es "viele überaus bedachtsame und einsichtige Leute", während die russische politische Elite in Petersburg der "verführerisch-einfachen Erklärung" zuneigte, daß die Revolution 1904/05 ein "jüdisches Unterfangen und Teil der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung" gewesen sei. Im Kern gibt Solschenizyn dem jüdischen Hauptanliegen grundsätzlich recht, nämlich der Forderung nach Gleichberechtigung, denn nur der bedeutende Ministerpräsident der nachrevolutionären Ära, Pjotr Stolypin, hatte sich ihm zufolge ehrlich diese Aufgabe gestellt, und nur er wäre imstande gewesen, sie zu verwirklichen. Er wurde freilich durch das Attentat eines Juden, D. G. Bogrows, aus dem Leben gerissen.

Es ist nicht unbegreiflich, daß für Solschenizyns Gegner, die ihn einen "Antisemiten" nennen, die negativen Aussagen über die Juden das größere Gewicht haben. Immer wieder ist von der "Dynamik, der großen Geschäftstüchtigkeit und Aktivität" der Juden die Rede, von dem weit überproportionalen Anteil, den sie zumal in der Ukraine an den Schnapsbrennereien, Schankwirtschaften und der Zuckerindustrie besaßen, und vor allem von ihrer starken Beteiligung an der revolutionären Bewegung, die 1903 den späteren Ministerpräsidenten Sergej Witte gegenüber Theodor Herzl sagen ließ, die Juden bildeten fünf Prozent der Bevölkerung, aber fünfzig Prozent der Revolutionäre. Zwar unterläuft Solschenizyn die aufschlußreiche Bemerkung, von den achtziger Jahren an hätte eine Verschmelzung zwischen der russischen und der jüdischen Intelligenzija in ihrer gemeinsamen revolutionären Sache und auch in allen anderen geistigen Leidenschaften stattgefunden, und daraus müßte anscheinend die These resultieren, daß die Unterscheidung zwischen Russen und Juden sinnlos geworden war und einer antijüdischen Zwecksetzung diente, aber dagegen muß und kann die Tatsache angeführt werden, daß nach der Ermordung Alexander II. im Jahre 1881, an deren Vorbereitung auch Juden beteiligt gewesen waren, ein allgemeiner Umschwung im jüdischen Selbstverständnis eingetreten sei: Eine Rückwendung zu den eigenen, nationalen oder "völkischen" Wurzeln und damit der erste Ansatz zum Zionismus. Das Judentum sei keine religiöse Glaubensgemeinschaft, sondern eine Nation, sagte Perez Smolenskin (und damit griff er auf die These zurück, die 1863 von dem Begründer des Zionismus, dem einstigen "Kommunistenrabbi" und Freund von Marx und Engels, Moses Hess, aufgestellt worden war). Die für geraume Zeit wichtigste und stärkste der sozialistischen Bewegungen in Rußland, der "Bund", nahm grundsätzlich nur Juden auf, freilich "proletarische" Juden, und der innerjüdische Klassenkampf fand einen prononcierten Ausdruck in der Behauptung von Julius Martow, dem Mitbegründer des "Bundes", hochgeschätzten Genossen Lenins und nach 1917 entschiedenem Gegner des siegreichen Bolschewismus: Die jüdische Bourgeoisie sei die "allerjämmerlichste und niedrigste Bourgeoisie" der Welt. Und auf der anderen Seite wies es weit in die Zukunft voraus, daß die überwiegend russischen Revolutionäre, die "Narodniki", die im Volk weitverbreiteten antijüdischen Empfindungen eine Zeitlang zu benutzen versuchten, indem sie von "jüdischen Kulaken" und jüdischen Agenten der Gutsbesitzer sprachen.

Aber am eindeutigsten "judenkritisch" scheint sich Solschenizyn im Hinblick auf die Pogrome der Revolutionszeit von 1903 - 06 zu äußern, die ja in Europa ein ungeheures Aufsehen erregten und wesentlich dazu beitrugen, daß "der Zarismus" für die westliche liberale Öffentlichkeit zum Haßobjekt und Schreckbild wurde. Nicht als ob Solschenizyn den jüdischen Opfern zumal des Kischinjower Pogroms vom April 1903 die Schuld zuschöbe. Aber er verwirft die "flammenden Übertreibungen", in den diese Öffentlichkeit sich erging und die vom "Jüdischen Schutzbüro" in Sankt Petersburg genährt wurden, insbesondere die immer wieder aufgestellten Behauptungen, dieser Pogrom und viele andere seien von den russischen Behörden vorbereitet und in Gang gesetzt worden.

Was wirklich vorlag, war Unfähigkeit und Ratlosigkeit auf seiten der Polizei, und nicht "Tausende" von verstümmelten Opfern waren zu verzeichnen, sondern nach verläßlichen Untersuchungen 42 Leichen, von denen 38 jüdisch waren und an denen keine Spuren von Verstümmelungen gefunden wurden. Bei dem Pogrom von Gomel handelte es sich, Solschenizyn zufolge, weit eher um eine Schlacht in einem Bürgerkrieg, denn die Juden hatten effiziente Selbstschutzverbände aufgestellt, und sie waren in der Stadt nicht etwa eine kleine Minderheit.

Die Pogrome waren mannigfaltig

Wenn in Solschenizyns Erzählung Empörung zum Vorschein kommt, dann richtet sie sich nicht eigentlich gegen die Juden, sondern gegen die liberale Weltmeinung mit ihrer Voreingenommenheit gegen Rußland und den Zarismus, die vor schwerwiegenden Übertreibungen und Fälschungen nicht zurückschreckte und allerdings auch von mächtigen, gutenteils jüdischen "Financiers" wie etwa Jacob Schiff gefördert wurde. Wenn alle Arten von "Verschwörungstheorien" zu verwerfen sind, war Solschenizyn hier auf einer falschen Spur. Aber richtig und erhellend dürfte die Feststellung eines jüdischen Autors sein, den Solschenizyn zustimmend zitiert: Die Pogrome der ersten Revolutionszeit hätten nicht nur einen antijüdischen, sondern auch einen konterrevolutionären Charakter gehabt. Mit leichter Zuspitzung läßt sich sagen, daß viele nicht-orthodoxe Juden wichtige Mitwirkende an der revolutionären Bewegung waren und daß die bald einsetzende konterrevolutionäre Bewegung - die nicht auf Manipulationen, sondern überwiegend auf der aufrichtigen Empörung großer Massen über die Schmähungen und Angriffe beruhte, denen hochgeschätzte Symbole wie Nationalfahnen und Zarenadler ausgesetzt waren - sich auch gegen sie und dann, in einer qualitativen Veränderung, vornehmlich gegen sie richtete. Die eigentliche Frage muß dann die sein, ob die Revolution als solche gut und zu bejahen oder ob sie schlecht und zu verneinen war.

Hier müßte eine ernsthafte Kritik der Gegner Solschenizyns einsetzen. Daß Solschenizyn dieser Revolution (und erst recht dem späteren bolschewistischen Umsturz von 1917) mit negativen Empfindungen gegenübersteht, läßt sich nicht bezweifeln. Aber es dürfte ungerechtfertigt sein, ihn für einen unkritischen Anhänger des zaristischen Systems, für einen Lobredner der überlieferten Orthodoxie und für einen simplen Nationalisten zu erklären. Man müßte dann nämlich seine Hochschätzung von Stolypin und dessen modernisierender Politik für vorgetäuscht erklären. Es dürfte sich vielmehr so verhalten, daß er schon der Revolution von 1905 und damit auch den stark daran beteiligten Juden den Vorwurf macht, jene Entwicklung gefährdet und schließlich zerstört zu haben, die Stolypin zu fördern suchte und die den Zarismus "konstitutionalisiert" haben würde, wie es mutatis mutandis in den meisten der zeitgenössischen Monarchien und insbesondere in England geschah. So hätte eine Staatsform entstehen können, die gewiß weniger liberal gewesen wäre als diejenige Englands oder Belgiens, die aber dem russischen Volk die entsetzlichen Leiden der bolschewistischen Periode und dem jüdischen Volk die Wahl zwischen der Integration als der assimilationistischen Lösung und der Auswanderung in einen zionistischen "Judenstaat" geboten haben würde. Wie an so vielen Punkten unterbindet die voreilige Verwendung der Begriffskeule "Antisemitismus" die Ansätze zum ernsthaften Nachdenken.

Solschenizyn hat schwerlich unrecht, und in der Sache äußert er sich "philosemitisch", wenn er gegen Lenins leichthändige Rühmung der Juden als der besten Revolutionäre sagt: "Die Juden sind eine der realsten und festgefügtesten, im Geiste verbundenen Nationen der Erde". Eine Aussage wie diese kann nur von denjenigen "antisemitisch" genannt werden, für die es überhaupt keine festgefügten und daher auch "separierenden" Identitäten innerhalb der einheitlichen Menschheit gibt. Aber auf die Geschichte des Judentums können sich diese Kritiker am wenigsten berufen, auch wenn die Überzeugung gut begründet ist, daß man die Juden "das Volk der Menschheit" nennen darf.

Was bei Solschenizyn immer wieder durchscheint, ist die Überzeugung, daß die Juden eine besonders begabte, besonders aktive, besonders eigenartige Menschengruppe sind, welche Reaktionen herausfordert, die am ehesten als "dumpf" oder "primitiv" zu bezeichnen sind. Aber Solschenizyn ist offenbar der Meinung, daß auch die Masse der dumpfen, unflexiblen, nichtintellektuellen Menschen Schutz verdient hat, und man darf es für wahrscheinlich halten, daß er eine "Quotendemokratie" einer Demokratie der individuellen Bewegungsfreiheit vorziehen würde. Wenn das "Antisemitismus" ist, so ist es gerade das Gegenteil jenes Antisemitismus "arischer Herrenmenschen", der aus den Geschichtsbüchern unter diesem Namen bekannt ist.

Hohe Literatur bedingt keine historische Forschung

Kritik gegenüber dem Buch "Zweihundert Jahre zusammen" ist gleichwohl nicht unbegründet. Am wenigsten adäquat sind allerdings Vorwürfe wie die, Solschenizyn benutze zu wenig Originalquellen und nehme "neueste Forschungsergebnisse" nicht zur Kenntnis: Ein weltberühmter Schriftsteller braucht die Arbeitsweise eines deutschen Habilitanden nicht als Vorbild zu wählen, und für die Zurückhaltung gegenüber der neuesten Literatur könnte er verständliche Gründe anführen. Es ist jedoch in der Tat beklagenswert, daß Solschenizyn sich so sehr auf das russisch-jüdische Verhältnis beschränkt und daß nicht einmal der ganze Ansiedlungsrayon, zu dem ja auch Zentralpolen gehörte, einbezogen wird. Allzu selten sind die vergleichenden Hinblicke auf das außerrussische Europa wie etwa die Feststellung, daß es in Deutschland eine "jüdische Volksmasse" wie in Rußland nicht gegeben habe. Durch stärkere Benutzung der zionistischen und der allgemein-jüdischen Literatur hätte er viele seiner Auffassungen besser begründen und den populären, denk- und wissenschaftswidrigen Anti-Antisemitismus gründlicher zurückweisen können.

Ist indessen nicht doch das Schlußurteil unumgänglich, daß Solschenizyn mit diesem Buch weit hinter sich selbst zurückgeblieben ist und sogar seinem eigenen Ruhm unaufhebbaren Schaden zugefügt hat? Die Antwort, so scheint mir, läßt sich am besten mit Hilfe eines Gedankenexperimentes geben:

Solschenizyn hätte eine Erzählung von der Schwerfälligkeit des bürokratischen Verfahrens unter den Zaren, von der Hilflosigkeit und kompensierenden Grausamkeit der Polizei, von der Erstarrung und Trägheit der orthodoxen Geistlichkeit vorlegen können, und das alles wäre zweifellos von dem großen Atem der Kritik und der Satire durchherrscht gewesen. Er hätte eine von Zorn und Empörung bestimmte Anklage gegen die nichtjüdischen und die jüdischen Revolutionäre von 1905, gegen die nichtjüdischen und jüdischen Terroristen der Zarenmorde und Attentate schreiben können, und der Leser hätte diese Anklage mit nicht geringerer Teilnahme verfolgt als einst den "Archipel Gulag".

Solschenizyn hat weder das eine noch das andere getan. Angesichts eines Themas, das für Leidenschaft und Anklage sehr geeignet ist, sofern man Stücke herausschneidet und einseitig Partei ergreift, hat er sich selbst - seine schriftstellerische Genialität - überwunden und ist auf die Ebene der historischen Interpretation herabgestiegen, deren oberste Maximen die Bemühung um ein mehrseitiges Verstehen, den Willen zur Objektivität und die Bereitschaft zum Abwägen verlangen. Deshalb glaube ich, daß dieses Buch trotz seines literarischen Ungenügens zu den "großen Büchern" des Verfassers gezählt werden muß, und es ist mir wahrscheinlich, daß die weit schwierigere Thematik des noch ausstehenden zweiten Bandes an diesem Urteil nichts ändern wird.

Bild: Darstellung eines antijüdischen Pogroms im "Wahren Jabob" 1915: Rußland als Schreckbild des liberalen Westens

Alexander Solschenizyn: "Zweihundert Jahre zusammen". Die russisch-jüdische Geschichte 1795-1916. Herbig Verlag, München 2002, 560 Seiten, gebunden, 34,90 Euro

 

Prof. Dr. Ernst Nolte, geboren 1923, ist emeritierter ordentlicher Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin. Seine letztes Buch "Der kausale Nexus. Revisionen und Revisionismen in der Geschichtswissenschaft" erschien im Frühjahr 2002 im Herbig Verlag.


 
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