© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/02 22. November 2002

 
"Wieso hat man mich nicht angerufen?"
Thierse-Skandal: Gespräch mit dem Komponisten Aubert Lemeland über seine Sinfonie "Letzte Briefe aus Stalingrad"
Moritz Schwarz

Herr Lemeland, um Ihre Sinfonie "Letzte Briefe aus Stalingrad", die zur Gedenkstunde für die Gefallenen von Stalingrad des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge am vergangenen Sonntag im Reichstag aufgeführt worden ist, gab es zuvor heftig Streit. Schließlich haben Sie sogar Ihren Besuch in Berlin abgesagt.

Lemeland: Ja, denn ich konnte die unerträgliche Berichterstattung des deutschen Nachrichtenmagazins Der Spiegel unmöglich hinnehmen! Das Heft hat mich und meine Komposition in seiner vorletzten Ausgabe in Zusammenhang mit Nazi-Propaganda gebracht. Als ich das gelesen habe, war ich schlichtweg geschockt und habe meine Reise nach Berlin abgesagt.

"Der Spiegel " ist keine staatliche Institution der Bundesrepublik Deutschland; waren Sie wirklich nur erzürnt über dessen Berichterstattung, nicht über die Einmischung der Politik in Gestalt von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse?

Lemeland: Wenn Sie sagen "erzürnt", so ist das das falsche Wort; ich war vielmehr geschockt. Sehen Sie, Angehörige meiner Familie haben in der Résistance gekämpft und sind gefallen. Meine erste Frau war eine Jüdin und meine zweite Frau ist Farbige. Und dennoch werde ich vom Spiegel als Nazi-Propagandist verunglimpft. Sie werden verstehen, daß das nicht hinnehmbar ist.

Allerdings müssen wir trotz eines tatsächlich zweifelhaften Untertons in seiner Berichterstattung an dieser Stelle die Kollegen des "Spiegel" in Schutz nehmen. Sie haben im Grunde nur berichtet, daß der Bundestagspräsident die Teilnahme an der Gedenkveranstaltung boykottieren würde, wenn dort "Nazi-Briefe" - Ihr Werk stellt eine Collage aus Musik und Prosa, nämlich deutsche Feldpostbriefe aus Stalingrad dar - verlesen werden würden. Die Unterstellung der Nazipropaganda geht also doch vom Bundestagspräsidenten aus.

Lemeland: Der Bundestagspräsident hat sich einen Austausch der Briefe gewünscht und ich habe dem zugestimmt. Ich stimme aber nicht der Titulierung dieser Briefe oder gar meines Werkes als Nazi-Propaganda zu.

Warum glauben Sie, hat der Bundestagspräsident auf einen Austausch der angeblichen Propaganda-Briefe bestanden?

Lemeland: Das kann ich mir auch nicht erklären. Hat er unter Druck gehandelt? Druck von seiten des Spiegels? Und warum hat der Spiegel, bevor er so etwas schreibt, nicht einmal bei mir angerufen und mich zu der Sache befragt? Das ist doch kein seriöser Journalismus!

Dennoch können Sie den "Spiegel" nicht beschuldigen Quelle, der Vorwürfe zu sein. Wieso nehmen Sie nicht zur Kenntnis, daß das Magazin in erster Linie die Vorwürfe des Bundestagspräsidenten wiedergibt?

Lemeland: Nein, das ist kein Konflikt zwischen dem Bundestagspräsidenten und mir, sondern zwischen dem Spiegel und mir. Noch einmal: Wieso hat man nicht Kontakt mit mir aufgenommen, dann wäre es niemals zu diesem Streit gekommen?

Wieso haben Sie als Franzose den Soldaten Ihres ehemaligen Kriegsgegners eine Sinfonie gewidmet?

Lemeland: Ich habe Gleiches auch schon für die alliierten Soldaten, die in der Normandie gefallen sind, gemacht. Ich stamme von dort und habe als kleines Kind den Kampf um die Normandie miterlebt. Damals habe ich die Mentalität der Soldaten kennengelernt, und ich sage Ihnen, die Mentalität der jungen deutschen Soldaten war nicht anders, als die der jungen alliierten Soldaten, in der Stunde der Not haben sie alle ihre Fahne vergessen und nach ihren Müttern gerufen. Deshalb kann ich nicht verstehen, wo aus den Briefen aus Stalingrad Nazi-Propaganda sprechen soll! Das sind die Briefe von Menschen, die vom Krieg verschlungen werden. Der frühere französische Staatspräsident François Mitterand kannte die "Briefen aus Stalingrad" und trug - ich weiß das von seiner engsten Mitarbeiterin - sie in den letzten Monaten seines Lebens ständig bei sich. Manch eine Anregung, zum Beispiel für seine große Rede vom 8. Mai 1995, entnahm er diesem Bändchen. Das Büchlein "Briefe aus Stalingrad", bei uns ohne den Zusatz "letzte", erschien 1958 auch in Frankreich. Mich hat die Lektüre über Jahre nachhaltig beeindruckt.

Spielt es keine Rolle, daß die Armee dieser Soldaten Ihr Land besetzt hatte?

Lemeland: Mein Vater kämpfte zweimal gegen Ihr Land. Er diente von 1914 bis zu seiner Verwundung in der Schlacht am Chemin des Dames 1917 und nocheinmal 1940. Dennoch empfand er niemals Haß gegen Ihr Volk und lernte sogar die Sprache Goethes. Ich habe in aller Bescheidenheit versucht, die Sprache Bachs und Schumanns zu lernen. Mein Vater liebte Ihr Land, und ich bin in diesem Punkt ein würdiger Sohn meines Vaters. - Das einzige, was wir an den Deutschen nie verstanden haben, ist die Vernichtung der Juden. Aber trotzdem kann man doch Mitleid mit den deutschen Soldaten von Stalingrad haben.

Ihre Familie hatte auch persönlichen Kontakt zu deutschen Soldaten.

Lemeland: Ja, in unserem Haus waren in der Zeit der deutschen Besatzung für zweieinhalb Jahre Offziere der deutschen Wehrmacht einquartiert. Und der beste Freund meines Cousins Pascal Lemeland, der als Mitglied der Résistance am 20. März 1944 im Alter von 20 Jahren gefallen ist, übrigens im Kampf gegen die Vichy-französische Miliz, war ein deutscher Offizier Namens Helmuth. Er warnte ihn noch, er solle nicht zum Maquis gehen, da er für den Kampf zu zart sei, doch Pascal ging trotzdem. Helmuth übrigens kam auch nach dem Krieg nach Frankreich, er kam jedes Jahr und besuchte die Familie und das Grab Pascals.

 

Aubert Lemeland, französischer Komponist und Schriftsteller. Der in der Normandie geborene Künstler lebt in Paris, ist Autor zweier Romane und Komponist zahlreicher Musikstücke und Sinfonien. Seine Sinfonie Nr. 10 "letzte Briefe aus Stalingrad", ein Requiem in sechs Sätzen, wurde im November 1998 in Koblenz uraufgeführt und im Mai 1999 in Wolgograd unter großer Anteilnahme der Bevölkerung.

 

weitere Interview-Partner der JF


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen