© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/02 22. November 2002


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Entfesselung
Karl Heinzen

Der Abbau des Sozialstaates ist nicht allein eine haushaltspolitische Notwendigkeit unserer Zeit, sondern auch die überfällige Konsequenz aus der historischen Niederlage des Sozialismus. So lange es Stimmen gab, die meinten, daß den Menschen gleiche Lebenschancen zustünden und eine Eigentumsordnung, die dies verhindere, kritikwürdig sei, so lange mußten kleine Geschenke der Wohlhabenden die Freundschaft der latent neidischen Massen erhalten. Eine maßvolle Umverteilung war notwendig, um den Gegnern des Kapitalismus den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Wie weit man hier gehen mußte, wurde durch ein ökonomisches Kalkül bestimmt. Die Kosten des Sozialstaates durften jene nicht übersteigen, die ein evidenter Klassenstaat mit sich gebracht hätte. Die von ihrer Arbeit lebende Bevölkerung sollte diese verläßlichen Zuwendungen höher schätzen als das Versprechen einer besseren, aber ungewissen Zukunft.

Die Investition in den sozialen Frieden hat sich ausgezahlt. Der Wettstreit der Systeme wurde erfolgreich durchgestanden. Die Linke hat das Signal der Menschen, ihr in ihrer Systemkritik nicht folgen zu wollen, akzeptiert und sich den gesellschaftlich Mächtigen zugewandt. Niemand mißbraucht heute die öffentliche Armut, um die Legitimität der großen privaten Vermögen in Zweifel zu ziehen. Eigentum wird nicht mehr in Frage gestellt und verpflichtet daher auch zu nichts mehr. Die Soziale Marktwirtschaft kann endlich wieder eine Freie werden. Als ordoliberal bemäntelter Sproß der nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsideologie war sie per se eine Last für die alte Bundesrepublik. Als eine Einladung an den Staat, zugunsten der Bevölkerung die Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Geschehens zu setzen , beinhaltete sie in einer Demokratie stets die Gefahr, Menschen wie Stimmvieh nur an ihrer nackten Zahl und nicht auch an ihrem Vermögen zu messen. Diese Zeiten sind nun vorbei. Die Marktwirtschaft muß sich nicht länger verstecken. Da sie keine Rücksichten mehr zu nehmen hat, treten auch ihre Stärken wieder zutage. Wie keine andere Wirtschaftsordnung sorgt sie dafür, daß sich die Akteure gemäß ihrer Marktmacht den vorgefundenen Tatsachen anpassen. Für die Mehrheit der Menschen heißt dies: Sie dürfen nur so viel vom Leben verlangen, wie diejenigen, die sie für ihre Arbeit bezahlen, ihnen zubilligen.

Der Staat besinnt sich wieder auf seine ursprüngliche Rolle, das Eigentum zu schützen und fährt alle Leistungen, die dazu nicht mehr zwingend notwendig sind, zurück. Die soziale Ungleichheit muß sich nicht mehr darauf beschränken, daß die großen Vermögen dem Wohlstandsniveau der Massen enteilen. Sie kann auch nach unten offener gestaltet werden. Sozialen Sprengstoff birgt dies nicht. Die Menschen sind nicht so naiv, zu verlangen, daß dem Tüchtigen der Erfolg beschieden sein soll. Es ist im Gegenteil die Chance, es durch unverdientes Glück zu etwas zu bringen, die sie mit unserer Ordnung versöhnt.


 
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