© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/02 22. November 2002

 
Angst vor Rot-Grün
Nach den Wahlen in Österreich droht die Rückkehr zur großen Koalition
Carl Gustaf Ströhm

Kurz vor dem 24. November, an dem das neue österreichische Parlament gewählt wird, bietet sich ein verwirrendes Bild, selbst Deutschland spielt in die Wahl mit hinein: In letzter Minute sagte Gerhard Schröder seine Rede auf der Wiener Schlußkundgebung seiner Schwesterpartei SPÖ und ihres Kanzlerkandidaten Alfred Gusenbauer ab.

Die offizielle Begründung: der deutsche Kanzler wolle nicht in die Niederungen des alpenländischen Wahlkampfes hineingezogen werden - weil die christdemokratische ÖVP und deren Kanzler Wolfgang Schüssel einen Teil ihres Wahlkampfes mit dem abschreckenden rot-grünen Beispiel in Berlin bestreiten.

Doch in Wirklichkeit hängt der Haussegen zwischen SPÖ und SPD heute so schief, wie selten zuvor. SPÖ-Chef Gusenbauer, dem das "bürgerliche Lager" noch vor wenigen Tagen jede Schlechtigkeit im Blick auf eine rot-grüne Herrschaft in Wien zugetraut hätte, zeigte sich plötzlich bei Wahlkampfauftritten derart ruppig und ablehnend gegenüber dem grünen Spitzenkandidaten Alexander van der Bellen, daß dieser die Fassung verlor und die SPÖ heftig kritisierte. Dann kam es noch stärker: Vor laufenden Kameras erklärte SPÖ-Kandidat Gusenhauer, die derzeitigen Regierungen in Wien und Berlin hätten eines gemeinsam: Sie hätten beide dem Volk nicht die Wahrheit über die Finanzlage gesagt und seien deshalb beide in Schwierigkeiten.

Aber in Wien regiert ein Kabinett mit FPÖ-Ministern, und die "reaktionären Bürgerlichen" mit den fortschrittlichen Genossen auf eine Stufe zu stellen, war aus der unbarmherzigen Berliner Perspektive schon ein starkes Stück. Doch auch damit war es noch nicht zu Ende: Als Schüssel während des Fernsehduells mit dem Rivalen Gusenbauer wiederum das rot-grüne deutsche Schreckgespenst an die Wand malte, sagte der SPÖ-Genosse, ihn interessiere Deutschland nicht. Er mache Politik für Österreich - für niemanden sonst.

Was bewegt Gusenbauer zu dieser Haltung? Erstens zeigte sich, daß der Ex-Juso-Chef, dem wegen seines wenig telegenen Äußeren selbst seine politischen Freunde eher unterschätzten, ein gewisses taktisches Gespür besitzt. In der SPÖ hat sich herumgesprochen, daß Schröders Weg nicht gerade vielversprechend ist. Bei vielen Österreichern - auch SPÖ-Wählern - ist Rot-Grün ausgesprochen unpopulär. Der SPÖ-Gewerkschaftsflügel bezeichnet die Grünen intern als "Chaoten", mit denen es nur Ärger geben werde, weil sie mit Ökosteuern und autofeindlicher Politik Stammwähler verprellten.

Plötzlich ist statt dessen wieder von der großen Koalition ÖVP-SPÖ oder SPÖ-ÖVP die Rede. Wäre es nicht angebracht, nach dem gescheiterten Abenteuer mit den Freiheitlichen, die sich selbst in die Luft sprengten, wieder zu den altbewährten Modellen zurückzukehren?

Es ist ein offenes Geheimnis, daß mehrere ÖVP-Länderchefs eine große Koalition wünschen. Der Landeshauptmann von Niederösterreich, Erwin Pröll, zeigt sich offen als Vorkämpfer einer solchen Lösung. Der ÖVP-Politiker ist persönlich recht gut mit dem Wiener SPÖ-Bürgermeister Michael Häupl befreundet, und beide unterhalten wiederum gute Kontakte zu Bundespräsident Thomas Klestil, einem erklärten Gegner von Schwarz-Blau. Schließlich sind da noch die Gewerkschaften und die Industriellen, die beide für eine Rückkehr zum altbewährten Proporz plädieren.

Wird Schüssels ÖVP stärkste Partei, könnte der "kleine Prinz" von Klestil wieder mit der Regierungsbildung beauftragt werden. Allerdings sind Kanzler und Präsident einander in herzlicher Abneigung gegenseitig verbunden. Klestil, dem seine Gegner vorwerfen, anläßlich der EU-14-Sanktionen nicht deutlich genug die österreichische Position verteidigt zu haben, könnte aber eventuell auch den zweitstärksten Kandidaten mit der Kabinettsbildung betrauen.

Bekommt Schüssel den Regierungsauftrag, blieben ihm zwei Koalitionsoptionen: entweder mit einer dezimierten FPÖ, von der Optimisten sagen, sie könne 13, und Pessimisten meinen, höchstens neun bis zehn Prozent (von bisher fast 27) erreichen - oder eben die große Koalition mit der SPÖ. Schwarz-Grün ist - noch - undenkbar. Ob die FPÖ noch einmal die kritische Masse für eine Regierungsbeteiligung erreicht, ist offen.

Und eine zweite Frage ist, ob die dezimierten Freiheitlichen überhaupt noch mit Schüssel koalieren, nachdem FPÖ-Übervater Haider den Kanzler als Zerstörer der FPÖ apostrophiert hat. Schüssel, der mit seinem Entschluß zu Neuwahlen die Koalition mit den "Blauen" platzen ließ, schaffte im Gegenzug ein Coup: Er machte dem FPÖ-Finanzminister Karl-Heinz Grasser das Angebot, in einer neuen Regierung Schüssel sein Ressort zu behalten - auch ohne und gegen die FPÖ. Damit will Schüssel weitere FPÖ-Wähler zu sich herüberziehen. Der amtierende Sozialminister und FPÖ-Chef Herbert Haupt hat bereits erklärt, der nun als "Verräter" geltende Grasser sei für das Amt des Finanzministers ungeeignet, die haidertreue FPÖ-Basis schäumt vor Zorn.

Das Schicksal der FPÖ ist hingegen völlig in der Schwebe, das österreichische Mitte-Rechts-Experiment ist - vorerst - gescheitert. Und das nicht durch die Schuld der in- und ausländischen Gegner, sondern durch eigene Fehlkalkulationen.


 
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