© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/02 15. November 2002

 
CD: Pop
Straßenstaub
Silke Lührmann

Rock- und Popmusik lebt - mehr noch als die Politik oder die Poesie - von klangvollen Worten, die nichts und doch alles bedeuten: Stolz, Freiheit, Heldentum. Im vergangenen Jahr wuchsen solchen Worten Flügel - die Flügel jener Kriegstaube gar, auf denen der Ex-Hippy Neil Young "Satan nachstellen" will -, andere waren verpönt: Die neuseeländische Band Shihad mußte sich erst in Pacifier umbenennen, bevor sie auf US-Tournee gehen konnte. Musiker, die Leidenschaften sonst lieber entfachten, statt Flammen zu löschen, gefallen sich neuerdings als Feuerwehrmänner.

Steve Earle fühlt sich, so schreibt er im Begleitheft zu seiner neuen CD "Jerusalem", derzeit als "der einsamste Mann in Amerika". Weil ihm "Rot-Weiß-Blau noch nie besonders gut gestanden hat", macht er sich für eine andere Art Patriotismus stark: den der Neinsager, die "ebendiese demokratischen Prinzipien verteidigen, indem sie darauf beharren, in unseren dunkelsten Stunden die schwersten Fragen zu stellen". Künstlerisch steht der bärtige Brummbär mit beiden Füßen auf uramerikanischem Boden. Earle macht seit langem gute Platten und liefert unvergeßliche Live-Auftritte: Mit ein paar Akkorden entführte er vor zwei Jahren sein Publikum aus der Baustellenromantik des Berliner Tempodrom nach Nashville. Schon 1986 wählte die Musikzeitschrift Rolling Stone ihn zum Country-Sänger des Jahres, doch der ganz große Ruhm blieb dem heute 47jährigen immer versagt. Der Staub der Straße, nicht der Sterne haftet an den Sohlen seiner Lederstiefel und kratzt ihm im Hals, bis er wie ein gutgelaunter Tom Waits oder ein vom Alkoholtod auferstandener Townes Van Zandt klingt.

Aus solch rauhen Kehlen ist man Zynischeres gewohnt - Endzeitphantasien, in denen "alles kaputt ist und kein Mensch Englisch spricht", wie Waits selber sie in "Waltzing Matilda" offenbarte. So befremdet die verletzte Naivität, mit der Earle bekennt, Haß sei ihm im Kindergottesdienst nie beigebracht worden ("Jerusalem"). In "Ashes to Ashes" schreibt er die Schöpfungsgeschichte neu und hinterfragt das Selbstverständnis der USA, Gott stets auf ihrer Seite zu wissen. "Amerika v. 6.0 (The Best We Can Do)" ist Earles Lamento für eine Generation "zufriedener Kunden" des American dream, die einst Blues sangen und Revolution predigten: "Heute schreiben wir Leserbriefe und lügen auf der Steuererklärung." In anderen Balladen schlüpft er in die Haut von Männern, die weniger Grund haben, mit ihrem Los zufrieden zu sein: Gefängnisinsassen ("The Truth") oder illegale Einwanderer ("What's A Simple Man To Do?"). "Shadowlands", Earles Gedicht über das Altern, rockt wie ein Springsteen-Hit zu des Bosses besten Zeiten. "I Remember You" im Duett mit Emmylou Harris ist eins der schönsten Liebeslieder, die je für Gitarre und Schlagzeug komponiert wurden.

Daß "John Walker's Blues" den kalifornischen Taliban-Kämpfer John Walker Lindh in dieselbe Tradition patriotischen Protests einzureihen scheint, zu der er auch Martin Luther King zählt, ging amerikanischen Kritikern dann doch zu weit. Earle gibt Lindh die Stimme eines verwirrten Kindes, das im Koran zum ersten Mal einen Lebenssinn findet. "Ich habe einen Sohn im selben Alter", sagt er dazu. "Mir ist klargeworden, daß ihm das genauso hätte passieren können. Lindhs Geschichte ist eine der amerikanischsten, die ich je gehört habe: Er kam über Hip-Hop zum Islam."

Earle, der sich als "Borderline-Marxist" diagnostiziert, singt es, wie es ist: ohne dramatische Klangteppiche, ohne instrumentale Schnörkel. Keine rauschenden Feste, aber unter den Anflügen von Weltschmerz schlägt - mal erhitzt, mal verhalten - ein robuster Puls. Dieses musikalisch überzeugende Album verdient auch moralisch ernst genommen zu werden.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen